Es ist verwirrend. Wohin man hört, überall ist die Rede von Bilddaten, Biomarkern, Rechenmodellen und selbstlernenden Algorithmen. Die medizinische Fachwelt spricht gleichzeitig von personalisierter Präzisionsmedizin und holistischen Ansätzen. Umwelteinflüssen, sozialen Bedingungen, persönlichen Erfahrungen werden ebenso Bedeutung bei der Entstehung von Krankheiten zugewiesen wie genetischen Faktoren, dem Mikrobiom oder bereits vorhandenen Komorbiditäten. Die Herausforderung besteht darin, die Zusammenhänge und Verknüpfungen zu verstehen, die man selbst mit den unterschiedlichen Verfahren herstellt. Die reale Angst der Ärzteschaft, von den intelligenten Systemen übertroffen oder gar durch diese ersetzt zu werden, ist im Grunde die Angst vor sich selbst. Vor den Datenmengen, die man erhoben, eingepflegt und zur Weiterverarbeitung an Rechner übergeben hat, die leistungsfähiger sind als man selbst.
Für einige Erkrankungen, beispielsweise psychiatrische, existieren bislang wenig quantitative Daten, die ja im allgemeinen Verständnis Objektivität versprechen. Ein Mangel an objektiv messbaren Parametern erschwert jedoch die Diagnosestellung und Vorhersage individueller Krankheitsverläufe. Ein Grund hierfür ist auch die noch mangelnde Infrastruktur für Big Data und präzisionsmedizinische Konzepte in einigen Fachbereichen. Benötigt wird eine fachübergreifende klinische Infrastruktur, die darauf ausgerichtet ist, dass Menschen tatsächlich frühzeitig als Patientinnen und Patienten erkannt und behandelt würden. Dies würde das Fundament für datenbasierte Verfahren darstellen, die es ermöglichen, mit Hilfe von großen Datenmengen und Rechenmodellen Prädiktionsfunktionen abzuleiten und Verlaufsvorhersagen für einzelne Fälle zu treffen. Neue Studien zeigen, dass auf diese Weise tatsächlich erstaunlich präzise Ergebnisse erzielt werden können.
Natürlich sind diese Erkenntnisse auch für die Pharmaindustrie interessant. Hinter dem Begriff der “Disease Interception” steht das Bemühen, Krankheiten zu erkennen und aufzuhalten, bevor Symptome entstehen: So nennt sich eine strategische Forschungs- und Entwicklungseinheit von Janssen Research & Development “Disease Interception Accelerator”. Hier beschäftigt man sich mit der Entwicklung konkreter Maßnahmen mit dem Ziel, Krankheiten in Risikopopulationen abzufangen und die Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft zu verbessern. Die Revolution in der Medizin ist demnach auch ein Marktzweig.
Bleibt zu erörtern, wie ein ethisch verantwortungsvoller Umgang mit Daten verstanden wird, die einen Menschen abbilden sollen, dessen grundlegendes Selbstverständnis über messbare Daten und bildgebende Verfahren hinausgeht. Denn solche Verfahren intervenieren nicht nur in Krankheitsstadien, sondern in soziale Umgebungen: wie lebt es sich als Datensatz? Wie wirksam ist das Label "Hochrisikopatient" hinsichtlich Lebensentwürfen oder Jobperspektiven? Welche wirtschaftlichen Interessen bestehen an der Nutzung dieser Daten? Wann werden Prävention und Prädiktion zum Determinismus? Wie verteilen sich Profite? Bringen bessere Diagnosetools mehr Krankheiten hervor? Stigmatisierung oder Entstigmatisierung? Datenmissbrauch? Bekanntermaßen erfordert mehr Komplexität mehr Verantwortung. Wie die sich verteilt, muss notwendig geklärt werden, nicht nur in Hinsicht auf Datenschutzrichtlinien, sondern auch in Hinsicht auf ein verantwortungsvolles Handeln gegenüber Patientinnen und Patienten.