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Adipositas: Ignoranz und Stigmatisierung

Defizite in Aus- und Weiterbildung der Ärzte sowie veraltete gesetzliche Rahmenbedingungen führen dazu, dass Menschen mit Adipositas bis heute nicht optimal versorgt werden.

"Menschen mit Adipositas brauchen Behandlung"

Ein Beispiel dafür, wie in Deutschland selbst an renommierten Wissenschaftsinstitutionen wie der Charité mit Adipositas umgegangen worden ist, lieferte Prof. Arya Sharma beim Fachforum Adipositas des Tagesspiegels: Als der ehemalige Lehrstuhlinhaber für Adipositasforschung und -management vor 20 Jahren versuchte, an der Berliner Top-Uni die Forschung zum Zusammenhang zwischen Adipositas, Bluthochdruck und nephrologischen Erkrankungen zu intensivieren, sei ihm bedeutet worden, das sei "kein relevantes Thema". Sharma ging nach Kanada, wo er für dieses Thema aufgeschlossene Kollegen und Forschungsbedingungen fand. 

Für den Adipositas-Forscher steht fest: Die weit verbreitete Meinung, Adipositas sei selbst verschuldet und daher nur durch eigene Verhaltensänderung und Willensstärke zu bewältigen, ist ein Irrtum.

"Gut gemeinte Ratschläge, sich mehr zu bewegen und weniger zu essen, sind so hilfreich wie die Empfehlung an einen depressiven Menschen, sich zur Stimmungsaufhellung eine Comedy-Show im Fernsehen anzuschauen."

Ein weiterer Irrtum betreffe aber auch die Wirksamkeit von Prävention, und zwar auch von Verhältnis-Prävention, etwa Aufklärung über ungesunde Lebensmittel und höhere Steuern auf süße und fetthaltige Nahrung. Kurzfristig zeige sich ein Effekt, auf die Dauer jedoch nähere sich der Konsum wieder den Ausgangswerten. Sharmas Schlussfolgerung: "Menschen mit Adipositas brauchen Behandlung."

Grund dafür seien die menschliche Biologie und Genetik – denn aufgrund jahrtausendelanger Erfahrung mit Nahrungsmittelknappheit seien die Regulationsmechanismen im menschlichen Körper darauf programmiert, Abwehrstrategien gegen Ernährungsmangel und nicht gegen Überfluss zu entwickeln. Auf jede Gewichtsabnahme, auch wenn sie gesundheitlich geboten ist, reagiere der Körper mit Hunger. Noch tückischer sei der Effekt, dass der Körper anfange, bei jeder Gewichtsreduktion mit einer Effizienzsteigerung des Kalorienverbrauchs zu reagieren. Das erklärt, warum jede Hunger-Diät über kurz oder lang zu einem Plateau-Effekt führt. Wird die Nahrungsmittelzufuhr erhöht, reagiert der Körper ausgesprochen effizient mit einer Gewichtszunahme – der frustrierende Jojo-Effekt.

Hocheffektiv und langfristig nützlich: Bariatrische OP

Als einzige wirksame Behandlungsmöglichkeit habe lange Zeit nur die bariatrische Operation zur Verfügung gestanden, die in Deutschland allenfalls für Patienten mit extremem Übergewicht von den Kassen bezahlt wird. Vier von fünf Patienten, so Sharma, gehe es nach der Operation gut, der hochsignifikante Gewichtsverlust sei dauerhaft, und vor allem normalisiere sich der Hormonhaushalt – die Patienten haben kein Hungergefühl mehr. Der eigentliche Skandal sei jedoch, dass diese wirksame Behandlungsmethode in den wenigsten Gesundheitssystemen für die Patienten zur Verfügung stehe, kritisiert Sharma.

Notwendig: Nachsorge und Betreuung

Allerdings zeichnet sich für Deutschland eine noch vage Hoffnung ab: Bereits 2020 habe der Deutsche Bundestag in einer Entschließung immerhin anerkannt, dass Adipositas eine Krankheit ist, so Marion Rung-Friebe von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. Schlussfolgerungen seien daraus aber bislang nicht gezogen worden. Ein Grund dafür sei auch, dass bei den meisten Ärzten – mit Ausnahme spezialisierter Chirurgen und Medizinern in Adipositas-Zentren – neuere wissenschaftliche Erkenntnisse weitgehend unbekannt seien. Weder im Studium noch in der Weiterbildung der Allgemeinärzte sei dieses Krankheitsbild in den Curricula verankert. Sharma pflichtet bei: "Ein Taxifahrer weiß wahrscheinlich mehr über Adipositas als ein Hausarzt – da dürfen Sie mich ruhig zitieren!" Dass dies kein undifferenziertes Ärzte-Bashing ist, bestätigten Ärzte als Diskussionsteilnehmer. 

Allerdings benötigten Patienten auch nach einer erfolgreichen bariatrischen OP weiterhin einer dauerhaften individuellen und qualifizierten Betreuung, betonen sowie Frau Rung-Friebe als Betroffene wie auch die Adipositas-Forscherin Prof. Dr. Martina de Zwaan von der MH Hannover und die Ernährungsmedizinerin Dr. Birgit Schilling-Maßmann. Ein Problem sei jedoch, so Henning Stötefalke, der die DAK Gesundheit in der Hauptstadt vertritt, dass es für die Ausgestaltung der Nachsorge bislang weder Evidenz noch Leitlinien gebe. Große Bedeutung komme daher einem Projekt des Innovationsausschusses des Gemeinsamen Bundesausschusses zu, mit dem bis 2025 eine bessere Evidenz für eine geeignete Nachsorgestruktur und ihre Instrumente entwickelt und untersucht werden sollen. 

Debatte über den Lifestyle-Paragrafen

Eine noch relativ neue Option sind Wirkstoffe, die sowohl zur Behandlung von Diabetes als auch Übergewicht indiziert sind und für beides eine Zulassung haben. Vor allem in Publikumsmedien hat sich daraus ein regelrechter Hype entwickelt – auch mit kontraproduktiven Effekten, dass Versorgungsengpässe in der Diabetes-Therapie aufgetreten sind. 

Nach gegenwärtiger Rechtslage – der „Lifestyle-Paragraf“ 34 Absatz SGB V ist hier einschlägig – müssen Patienten diese Arzneimittel in der Indikation Adipositas selbst bezahlen, als Dauermedikation. Kassenvertreter wie Hennig Stötefalke zucken angesichts der Kosten, die auf die GKV zusätzlich hinzukämen, zurück. Die Politik nähert sich vorsichtig einer Modifikation des Leistungsrechts: Die SPD-Sozialpolitikerin Ariane Fäscher glaubt, das müsse in ein Gesamtkonzept für eine bessere Nachsorge, stärkere Bewusstseinsbildung für gesunde und schlechte Ernährung und Prävention eingebettet sein.

Tatsache ist allerdings, dass Adipositas schon jetzt die Gesellschaft teuer zu stehen kommt: 30 Milliarden Euro an direkten Behandlungskosten, meist für die Folgen von Adipositas, sowie weitere 33 Milliarden Euro aufgrund von Arbeitsausfällen und Frühverrentungen. Nicht eingerechnet sind dabei die intangiblen Kosten aufgrund von Stigmatisierung, Ausgrenzung, Verlust der Lebensqualität und der sozialen Teilhabe.