Der Befund ist offiziell: Die Bundesanstalt für Arbeit stuft Ärzte, Medizinische Fachangestellte und Pflegekräfte als Mangelberufe in Deutschland ein. Dies, obwohl die Zahl der Beschäftigten in allen drei Berufen in der Vergangenheit kontinuierlich gestiegen ist: bei den Klinikärzten um 81 Prozent seit 1991, bei den MFA seit 2013 um 13 Prozent und bei den qualifizierten Pflegekräften im Krankenhaus seit 2013 um 21,5 Prozent – jeweils in Vollzeitäquivalenten.
Auch im internationalen Vergleich ist Deutschland gemessen an der Arbeitskapazität überdurchschnittlich gut ausgestattet: 4,5 Ärzte versorgen 1000 Einwohner, im Vergleich mit ähnlichen Gesundheitssystemen ein überdurchschnittlicher Wert. Auch mit Pflegekräften ist die Bundesrepublik vergleichsweise gut bestückt: 4,9 Klinik-Pflegefachkräfte kommen auf 1000 Einwohner, die Niederlande müssen mit 3,5 Fachkräften arbeiten.
Die immer wieder beschworene Überalterung der Gesundheitsberufe sehen die Sachverständigen als nicht belegt an. Feststellbar sei eine "moderate Alterung in allen drei Berufsgruppen", von der jedoch "keine Gefährdung der Versorgung" ausgehe.
Versuche, der Zahl der Fachkräfte zu erhöhen, sieht der Rat als wenig erfolgreich: Das sei aufgrund der demografischen Entwicklung, der Konkurrenz mit anderen Fachberufen und wegen hoher Kosten nur begrenzt möglich, so der Ratsvorsitzende Professor Michael Hallek, Onkologe an der Uni Köln. Die Konsequenz, so sein Stellvertreter, der Gesundheitsökonom Professor Jonas Schreyögg von der Uni Hamburg: "Deutschland kommt an Strukturreformen nicht vorbei."
Die Hauptursache für anhaltende Personalüberlastung und als Mangel empfundene personelle Besetzung sehen die Mediziner, Pflegewissenschaftler und Ökonomen des Rats in "arbeitsorganisatorischen und insbesondere strukturellen Schwächen" im deutschen Gesundheitssystem. Diese Kombination erschwere den Zugang zu notwendigen Versorgungsleistungen, führe zu einer Gefährdung der Patientensicherheit, Überlastung des Personals und einer hohen Zahl krankheitsbedingter Fehltage – an der Spitze fast aller Berufsgruppen die Pflege.
Die strukturellen Defizite seien die strikte Sektorentrennung, Überkapazitäten im stationären Sektor, Doppelstrukturen und ein fehlendes Primärversorgungssystem. „Neben ausufernder Bürokratisierung tragen die unzureichende Steuerung von Patientenwegen sowie eine mangelnde Kommunikation und Kooperation zwischen den Akteuren zur Verschärfung des Fachkräftemangels bei“, so der Rat.
Die Empfehlungen zielen daher nur teilweise auf ein besseres Management der Personalkapazitäten ab: Dazu zählen etwa eine strategische Gesundheitspersonalplanung mit einem nationalen Monitoring der Personalressourcen, die Erweiterung der Verantwortung und Kompetenzen in der Pflege, auch durch eine Akademisierung und eine stärkere Steuerung der fachärztlichen Weiterbildung, etwa durch eine Quotierung der Weiterbildungsplätze.
Die weitaus bedeutenderen Effekte für einen ressourcenschonenden Umgang mit Humankapital sehen die Wissenschaftler in anstehenden Strukturreformen. Diese müssten wirksam darauf abzielen, die Taktzahl in der Medizin insgesamt zu vermindern und auf die medizinisch notwendige Versorgung zu konzentrieren, insbesondere durch eine effiziente Patientensteuerung.
Den stärksten Effekt errechnen die Gesundheitsökonomen auf der bevorstehenden Notfallversorgung: Die Vernetzung von 112 und 116 117 sowie die Ersteinschätzung der medizinischen Dringlichkeit durch Integrierte Leitstellen, Integrierte Notfallzentren und ein Gemeinsamer Tresen verringert die Zahl der Rettungseinsätze, die zu Aufnahmen in die Notfallzentren führen, um 15 Prozent. Ebenso könnte die Zahl der Selbsteinweiser um 30 Prozent gesenkt werde. Auf diese Weise könnten über fünf Millionen Fälle vermieden werden.
Auch der Anteil an den stationär aus den Notfallambulanzen aufgenommenen Patienten könnte vermindert werden, wenn die Krankenhäuser eine für ambulante Behandlung auskömmliche Vergütung erhielten. Würde die Aufnahmequote von derzeit 44 auf 30 Prozent gesenkt werden, würden vier Millionen Klinikfälle weniger anfallen. Insgesamt könnten durch die Reform der Notfallversorgung zwischen 12,1 und 32,2 Millionen Belegungstage eingespart werden.
Weitere Entlastungseffekte erwarten die Ratsmitglieder von einem Ausbau der Ambulantisierung und der Erweiterung des AOP-Katalogs, dessen Leistungen nach Hybrid-DRGs sektorengleich vergütet werden. Dies könnte die Zahl der Belegungstage um weitere 3,2 bis 6,3 Millionen vermindern.
Zur effektiveren Steuerung von Patienten in der ambulanten Versorgung empfiehlt der Rat die Stärkung primärärztlicher Strukturen und perspektivisch den Aufbau eines umfassenden Primärarztsystems nach dem Vorbild der Niederlande und Dänemarks. Ein erster Schritt könnte modellhaft eine stärkere finanzielle Incentivierung der Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung sein. Der Rat verweist dabei auf die positiven Effekte der HzV in Baden-Württemberg, mit der die Zahl der unkoordinierten Facharztinanspruchnahme um mehr als die Hälfte vermindert werden konnte; auch die Zahl der Klinikeinweisungen war rückläufig.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sieht sich durch die Kernaussagen in seinem Reformkurs bestärkt und kündigte bei der Übergabe des Gutachtens an, die geplanten Reformen "im Original" durchzusetzen.
"Deshalb darf nichts verwässert oder abgespeckt werden, dann lassen wir es lieber bleiben."
Schon in den nächsten Wochen werde der Referentenentwurf zur Reform der Notfallversorgung entscheidungsreif dem Kabinett vorgelegt werden. Kurze Zeit später soll der Entwurf für eine Reform des Rettungsdienstes folgen. In Arbeit sei ferner ein "Gesundes Herz-Gesetz" mit einer Neuordnung der Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen.