Mehr als drei Jahre hat sich der Bundestag Zeit genommen, auf ein wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 zur Rechtmäßigkeit des assistierten Suizids zu reagieren und dafür eine grundgesetzkonforme gesetzliche Regelung zu treffen. Interfraktionelle Arbeitsgruppen hatten dazu zunächst drei Entwürfe vorgelegt, von denen zwei zu einem Konsensentwurf vereinigt wurden, der vor wenigen Wochen der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist.
Der im März 2022 vom SPD-Abgeordneten Castellucci und weiteren Parlamentariern der CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken vorgelegte Gesetzentwurf regelt die Suizidhilfe im Rahmen des Strafrechts. Dabei bleibt die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" nach Paragraf 217 Absatz 1 weiterhin rechtswidrig und wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe geahndet. Allerdings werden Ausnahmetatbestände definiert: Nicht rechtswidrig ist eine "Förderungshandlung", wenn die suizidwillige Person volljährig und einsichtsfähig ist, eine fachärztliche Untersuchung ergeben hat, dass keine die autonome Entscheidungsfindung beeinträchtigende psychische Erkrankung vorliegt und nach fachlicher Überzeugung das Sterbeverlangen freiwillig, ernsthaft und dauerhaft ist. Ferner muss eine individuelle, umfassende und ergebnisoffene Beratung stattgefunden haben (Paragraf 217 Absatz 2). Auch die Werbung für Hilfe zur Selbsttötung bleibt nach diesem Gesetzentwurf prinzipiell rechtswidrig und strafbar. Dies gilt nicht für Ärzte und Kliniken, die darüber informieren, welche Institutionen Hilfe zur Selbsttötung anbieten oder Institutionen, die über ihre Hilfsangebote informieren (Paragraf 217a).
Dagegen hat die Parlamentariergruppe um die Abgeordneten Helling-Plahr und Künast – darunter sind alle Fraktionen außer der AfD vertreten – zwei Entwürfe zusammengefasst und eine Regelung entworfen, mit der ein eigenes "Gesetz zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben und zur Regelung der Hilfe zur Selbsttötung" außerhalb des Strafrechts geschaffen wird. Die Kernpunkte sind das Recht auf Hilfe zur Selbsttötung und zur Hilfeleistung, der autonom gebildete freie Wille, der durch Beratung und Untersuchungen festgestellt werden muss und die Zulässigkeit der Verschreibung geeigneter Medikamente oder Betäubungsmittel durch einen Arzt.
Bereits im vergangenen Jahr hatte der Bundestag eine orientierende Debatte über eine gesetzliche Regelung für den assistierten Suizid geführt. Die gegenwärtige Rechtslage ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts offen – jedoch für Ärzte, die Hilfe zum Suizid leisten, nicht ohne Risiko. Vor allem aber ist die Suche suizidwilliger Menschen nach Hilfestellung stark erschwert; das betrifft auch den Zugang zu Arzneimitteln, weil die Minister Gröhe und Spahn (beide CDU) entgegen höchstrichterlicher Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dem Bundesinstitut für Arzneimittel untersagt haben, Antragstellungen zur genehmigen.
Nun, gut eine Woche bevor der Bundestag eine gesetzliche Regelung zum assistierten Suizid abschließend debattiert und entscheidet, haben sich die Bundesärztekammer, das Nationale Suizidpräventionsprogramm und die Fachgesellschaften für Psychiatrie und Psychotherapie und für Palliativmedizin zu Wort gemeldet. Sie warnen vor einer „übereilten“ Entscheidung und mahnen eine eingehendere parlamentarische und gesellschaftliche Debatte über den assistierten Suizid und die Optionen zur Suizidprävention an.
BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt kritisiert insbesondere den vor wenigen Wochen konsentierten Gesetzentwurf unter der Federführung von Katrin Helling-Plahr und Renate Künast. Eine einzige Beratung und eine Wartezeit von nur drei Wochen, bevor ein assistierter Suizid möglich ist, seien nicht ausreichend, die Freiverantwortlichkeit der Suizidentscheidung sicherzustellen. Er bemängelt, dass bei der Beratung die Einbeziehung psychiatrischer und psychotherapeutischer Kompetenz nicht verbindlich vorgegeben ist. Tatsächlich sieht der Gesetzentwurf vor, dass von den Ländern zu bildende Beratungsstellen "insbesondere sicherstellen müssen, dass kurzfristig eine ärztlich, fachärztlich, psychologisch, sozialpädagogisch, sozialarbeiterisch oder juristisch ausgebildete Fachkraft hinzugezogen werden kann".
Professor Reinhard Lindner vom Nationalen Suizidpräventionsprogramm befürchtet aufgrund der Erleichterungen für den assistierten Suizid eine deutliche Zunahme vermeidbarer Selbsttötungen. Die größte Gruppe, die einen Suizid in Betracht ziehe, seien Menschen psychischen Erkrankungen, insbesondere Depressionen, aber auch in Lebenskrisen, etwa durch den Verlust einer Person oder des Arbeitsplatzes. Für solche Lebenskrisen habe das Bundesverfassungsgericht Schutzkonzepte angemahnt. Die Gesetzentwürfe basierten allein auf einer einseitig juristisch betrachteten Rationalität des Suizidwunsches, ohne die wesentliche emotionale Seite zu beachten. Vorrangig müsse deshalb die Etablierung einer flächendeckenden, qualifizierten und ausreichend finanzierten Suizidprävention sein. Lindner erwähnt allerdings nicht, dass der Gesetzentwurf der Abgeordneten Helling-Plahr/Künast mit einem Entschließungsantrag verbunden ist, der genau diese umfassende Suizidprävention fordert.
DGPPN-Präsident Professor Andreas Meyer-Lindenberg argumentiert, 90 Prozent der Suizide stünden im Zusammenhang mit schweren psychischen Störungen. Durch qualifizierte Hilfsangebote sowie durch medikamentöse Therapien lasse sich das Suizidrisiko erheblich senken. Solche Hilfsangebote müssten Vorrang haben. Notwendig seien bei der Vorbereitung eines Suizids die Trennung von Beratung und Begutachtung, spezifische psychiatrisch-psychologische Kompetenz bei der Beratung und die Sicherstellung der Ergebnisoffenheit der Beratung.
Heiner Melching von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin hält das von den Parlamentariern unterstellte Setting für Beratungen für völlig unrealistisch, beispielsweise angesichts komplexer Lebenskrisen. Mit erheblichen emotionalen Einflüssen seien häufig mehrere mehrstündige Sitzungen für eine ergebnisoffene Beratung erforderlich, wenn diese auch Auswege aus dem Suizidwunsch leisten soll.
Kritisch wird insgesamt auch angemerkt, dass Erfahrungen in anderen Ländern, etwa den Niederlanden, zeigten, dass die Zahl vollendeter Suizide ansteige. In Deutschland mit etwas mehr als 9000 Todesfällen durch Suizid, liegt der Anteil an allen Todesfällen bei rund einem Prozent, in Holland bei fünf Prozent. Auch die Zahl grausamer Suizide, wie Sprünge vor den Zug oder von einer Brücke, hätten sich durch die Legalisierung des assistierten Suizids nicht vermindert.