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Die Karriere der siamesischen Zwillinge Eng & Chang

Eben aus dem Königreich Siam angekommen werden die Brüder Eng und Chang internationale Stars. Die ganze Geschichte über die spektakuläre Karriere der siamesischen Zwillinge.

Das Leben der siamesischen Zwillinge Eng & Chang - Teil I

Übersetzt aus dem Französischen

Boston, 16. August 1829. Von den Docks aus verbreitet sich das Gerücht wie ein Lauffeuer: Unter den Passagieren, die an diesem Morgen von Bord der aus Asien einlaufenden Sachem gehen, sollen sich zwei ungewöhnliche Persönlichkeiten befinden.

Am nächsten Morgen bestätigt die bestinformierte Zeitung der Stadt, der Boston Patriot, die Nachricht, dass die Hauptstadt von Massachusetts seit dem Vortag seltsame Besucher empfangen hat – zwei 17-jährige Brüder, Zwillinge, die an der Brust durch eine Art Auswuchs verbunden sind, der sie im wahrsten Sinne des Wortes unzertrennlich macht.

Der Boston Patriot ist erfreut, ein Detail hinzufügen zu können, das die Leser interessieren wird: Für 50 Cent kann jeder das Wunder bald mit eigenen Augen sehen. Sobald Eng und Chang von den führenden Medizinern in Boston untersucht worden sind, wird eine öffentliche Vorführung organisiert.

Unzertrennlich seit der Geburt

Eng und Chang sind die Neugier, die ihnen entgegengebracht wird, zweifellos gewohnt. Seit ihrer Geburt im Mai 1811 in Maeklong, einem Dorf 80 km vom heutigen Bangkok entfernt, im Königreich Siam, haben die beiden Brüder schon viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen... Weiterlesen

Den Anfang machte der Herrscher Rama III., der sie 1825 an seinem Hof empfing.Wie alle anderen war auch Rama III. von den beiden Jungs fasziniert. Und das aus gutem Grund: Während der Schwangerschaft ihrer Mutter scheinen die Embryonen irgendwie miteinander verschmolzen zu sein. Die Zwillinge sind durch ein Band aus Muskeln und Knorpeln zusammengehalten, eine Gewebebrücke, die sie auf Höhe des Brustbeins verbindet.

Aber das Erstaunlichste ist vielleicht etwas anderes: Die beiden Brüder, die seit ihrer Geburt daran gewöhnt sind, quasi in Symbiose zu leben, sind körperlich und geistig gesund. Sie haben sogar die Pockenepidemie überlebt, der einige Jahre zuvor mehrere ihrer Geschwister zum Opfer gefallen sind. Ansonsten führen sie ein möglichst normales Leben, zumal die Gewebebrücke, die sie verbindet, elastisch genug ist, um ohne große Beschwerden nebeneinander gehen zu können. Sie sind zwei ganz normale – oder fast ganz normale – Kleinbauern aus Siam, die auf dem Hof ihrer Mutter aufgewachsen sind und dort gearbeitet haben. Die beiden Kinder hatten sich sogar auf das Sammeln und Verkaufen von Eiern spezialisiert, die sie aus den Vogelnestern an den Ufern des Mae Klong stahlen.

Im Licht der Öffentlichkeit

Am Fluss werden sie 1824 zum ersten Mal von Robert Hunter gesehen, einem schottischen Kaufmann auf Geschäftsreise. Die beiden Brüder paddeln mit nacktem Oberkörper auf dem Fluss. Hunter wittert eine gute Story. Er denkt sofort daran, sie in einer "Freak Show" vorzuführen, einer Art lebender Ausstellung, die im 19. Jahrhundert üblich ist und später von P. T. Barnum berühmt gemacht wird.

Das Prinzip ist einfach: Die Öffentlichkeit soll für den Zugang zu den sogenannten "Monstern" bezahlen. Zwerge, Riesen, Kolosse, bärtige Frauen, angebliche Meerjungfrauen – kurz gesagt, Menschen mit einer Behinderung, einer Krankheit oder einem besonderen Körperbau werden zur Schau gestellt, wie auch Joseph Merrick, der Mann, der David Lynch zu seinem Film "Elephant Man" inspirieren wird.

Robert Hunter braucht ein wenig Geduld – immerhin fünf Jahre. Im Jahr 1829 überzeugt er schließlich Chang, Eng und ihre Mutter, einen Vertrag mit ihm abzuschließen. Umgehend brechen sie in die USA auf. Robert erkennt, dass es wichtig ist, den Verdacht des Betrugs auszuschließen, um das Publikum zu begeistern. Er lässt Eng und Chang von Ärzten untersuchen, um ihre Besonderheit zu bestätigen.

Der erste Arzt, der sie untersucht, ist Dr. Joseph Skey, ein von der britischen Armee nach Boston abkommandierter Engländer, gefolgt von seinem Kollegen John Collins Warren, einem Medizinprofessor in Harvard. Sie sind die ersten beiden in einer sehr langen Liste. Selten wurden Patienten so intensiv begutachtet.

Xiphosternopagus-Zwillinge

Die Untersuchung zeigt, dass die beiden Brüder mit 17 Jahren ihr Wachstum fast abgeschlossen haben: Eng ist zu diesem Zeitpunkt 1,57 m und sein Bruder Chang 1,56 m groß. Beide tragen ihre Haare nach chinesischer Tradition, zu langen, um den Kopf gewickelten Zöpfen gefasst. Aber die Ärzte interessieren sich natürlich für einen anderen Bereich ihrer Anatomie, nämlich dort, wo ihre beiden Körper miteinander verbunden sind. In diesem Fall im Bereich des Brustbeins und der Leber. Sie sind "Xiphosternopagus"-Zwillinge, da sie im Bereich des Xiphoidfortsatzes am unteren Teil des Brustbeins zusammengewachsen sind.

 
Auszug aus dem Autopsiebericht der beiden Körper von Chang und Eng1

Laut medizinischen Berichten haben die beiden Brüder außer der Brücke aus Knorpel- und Hautgewebe, die sie verbindet, keine gemeinsamen Empfindungen. Diese siebeneinhalb Zentimeter lange Gewebebrücke ist elastisch genug, um es ihnen zu ermöglichen, bequem nebeneinander zu gehen, wie zwei vollkommen synchrone Tänzer. Normalerweise legt jeder einen Arm um die Schulter seines Bruders.

Die medizinische Untersuchung liefert aber noch weitere Informationen. Das Gefühl von Hunger und Durst tritt bei beiden gleichzeitig auf. Seit ihrer Kindheit essen und erleichtern sie sich gemeinsam. Auch ihre Atem- und Herzfrequenzen sind synchron, zumindest im Ruhezustand. Ihr gestörtes Sehvermögen ist eine weitere Gemeinsamkeit: Beide sehen schlecht nach vorne, weil sie schräg nach außen schauen müssen. Unter einer starken Verkrümmung der Wirbelsäule leidet aber nur Chang.

Auf den Jahrmärkten der Welt

Nach ihrer Ankunft in Amerika werden die siamesischen Brüder Eng und Chang von ihren "Impresarios" Robert Hunter und einem gewissen Abel Coffin schnell dem Publikum in Boston vorgestellt. Die beiden Brüder lernen in Rekordgeschwindigkeit Englisch und beschließen bald, ihre Auftritte zu professionalisieren, anstatt brav auf der Bühne zu sitzen und sich nicht zu bewegen... Weiterlesen

default (1).jpgAus einer Ausstellung machen sie eine Show, um zu zeigen, dass ihre Besonderheit kein Hindernis ist. Sie rennen, springen, schwimmen, spielen Schach und führen eine Reihe von Sketchen, Akrobatik und Zaubertricks auf.

Ihre lange Tournee beginnt in Boston und führt sie bald über die wichtigsten Städte Neuenglands hinaus. Sie werden zu echten Stars. Eng und Chang erhalten 10 und später 50 Dollar pro Monat und reisen nach Rhode Island und New York, wo sie erneut von den Ärzten des Rutgers Medical College unter die Lupe genommen werden. Weniger als sechs Monate nach ihrer Ankunft in Boston reisen sie mit dem Schiff weiter nach England, wo sie von der Hälfte des Royal College of Surgeons untersucht werden.

Bis Ende 1830 haben sie bereits 300.000 Menschen auf der Bühne gesehen, darunter die britische Königsfamilie und der im Exil lebende französische König Karl X. Ihr ursprünglich geplanter Aufenthalt in Frankreich wird kurzfristig abgesagt. Die Begründung lautet, dass ihre Anwesenheit einem solchen unmoralischen und ungesunden Schauspiel ausgesetzte junge Menschen verderben und schwangere Frauen verstören könnte.

Zwischen den Brüdern Eng und Chang und ihren Impresarios hängt der Haussegen schon bald schief. Die beiden intelligenten und gebildeten jungen Männer sind schnell der Meinung, dass sie gut genug sind, um ihre Karriere selbst in die Hand zu nehmen. Sie wollen auch mit einer Angewohnheit Schluss machen, die sie sehr ärgert: als karikaturistische Asiaten kostümiert zu werden. Dabei wollen sie nichts weiter als sich in ihrer neuen Heimat zu integrieren.

Die Zwillinge setzen sich zur Ruhe

Am 11. Mai 1832 werden Eng und Chang volljährig. Die 1830er Jahre verbringen sie damit, auf eigene Rechnung durch alle Bundesstaaten von Kentucky bis Tennessee, Alabama und Mississippi zu touren, bevor sie wieder ins Ausland gehen: Kuba, Kanada, Frankreich, Holland, Belgien – überall lösen sie Begeisterung aus und verdienen dabei eine stattliche Summe.

Chang,Eng(c.1860).jpgIm Oktober 1839 entscheidet der Oberste Gerichtshof zu ihren Gunsten: Nach wiederholten Anträgen werden Eng und Chang in den USA eingebürgert und nehmen einen neuen Familiennamen an: Bunker. Da es den beiden Brüdern finanziell gut geht, beschließen sie, ihre Karriere im Showbusiness zu beenden und sich in Little Sandy Creek in der Nähe von Wilkesboro, North Carolina, niederzulassen.

Als Besitzer von 260 Hektar gutem Land und gut 30 Sklaven – die sie übrigens nicht immer bestens behandeln – führen die beiden jungen Männer in den 1840er Jahren ein luxuriöses Leben, das typisch für Plantagenbesitzer des Old South und das sklavenhaltende Amerika ist. Und es funktioniert: 1850 wird ihr Kapital auf zwei Millionen heutige Dollar geschätzt, mit Einkünften aus ihrer Landwirtschaft und ihren Handelsaktivitäten.

Der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 frisst ihr Vermögen weitgehend auf, aber die beiden Brüder nehmen ihre Tourneen wieder auf und können ihre finanzielle Situation zum Besseren wenden, ohne jedoch jemals wieder den Stand von vor dem Bürgerkrieg zu erreichen: 1870 wird ihr Vermögen auf nur 600.000 Dollar geschätzt.

Dennoch führen sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1874 ein ruhiges und eher klassisches Leben als mehrfache Familienväter und Großgrundbesitzer.