Unter dem Titel "Verantwortung für den Menschen: Rudolf Virchow 'trifft' Alfred Döblin" begaben sich die Referierenden auf einen medizin- und literaturhistorischen Spaziergang in den Fußspuren zweier prägender Berliner. Ziel der Veranstaltung war es dabei zu erörtern, was die Fachbereiche Medizin und Literatur voneinander lernen können – und wieso man in keinem der beiden Bereiche "Biographien" zu früh bewerten sollte.
Einführend in die von Dr. Jens H. Stupin moderierte Ringvorlesung betonte Prof. Dr. Dr. Jalid Sehouli als oberstes Ziel, Kultur und Medizin in einen Dialog zu bringen. Viele Aspekte der Literatur könnten laut Sehouli auch inspirierend für den medizinischen Alltag sein, besonders hinsichtlich einer sozialen Verantwortung. In diesem Sinne folgte die Veranstaltung den Lebenswegen zweier Menschen, die in Berlin deutlich ihre Spuren hinterlassen haben: Rudolf Virchow und Alfred Döblin.
"Der Politiker und Sozialmediziner" Rudolf Virchow wurde dabei in einem Vortrag der Medizinhistorikerin Dr. Judith Hahn weiter ausgeleuchtet. Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend wurde Virchow der Weg zum Medizinstudium erst über den Eintritt ins Militär ermöglicht. Als besonders ungewöhnlich für einen Mediziner zu seiner Zeit schildert Dr. Hahn die aktive Teilnahme Virchows an den Straßenkämpfen im Rahmen der Deutschen Revolution 1848/1849, an der mehrheitlich Menschen aus dem Handwerk oder der "Unterschicht" teilnahmen. Zuvor überwarf sich Virchow mit der Preußischen Regierung: Nachdem der Mediziner im Rahmen einer Inspektionsreise einer Typhusepidemie in Oberschlesien auf den Grund gehen sollte, prangerte dieser Staatsversagen als Grundlage für die Umstände an. Die Regierung, so Virchow, sei für die schlechten hygienischen und sozialen Verhältnisse verantwortlich. Aus diesen Erfahrungen und seiner Freundschaft mit dem Armenarzt Salomon Neumann resultierte Virchows soziale Verantwortung als Mediziner. Hahn zitiert Virchow: "Ärzte sind die Anwälte der Armen."
Die soziale Verantwortung der Medizin habe laut Dr. Hahn auch in einer Vielzahl von Virchows späteren Projekten eine große Rolle gespielt: So führte Virchow unter anderem Fleischbeschauungen in Schlachthöfen ein und verfolgte seit den 1860er Jahren den Plan, eine Kanalisation in Berlin zu errichten. Der Beschluss für den Bau wurde 1868 getroffen. Der Pathologe vermutete einen Zusammenhang zwischen Cholera und verunreinigtem Trinkwasser, der wenige Jahre später von Robert Koch nachgewiesen wurde. Auch trat Virchow als Begründer von Krankenhäusern in Erscheinung. Diese sollten in den Augen des Pathologen für jedermann zugänglich sein.
Besonders in seinen späteren Lebensjahren, betont die Referentin, sei Virchow aber auch Verhinderer neuer Wissenschaften gewesen. Anders als etwa Robert Koch verkannte der Mediziner die Bedeutung von Krankheitserregern und sprach sich gegen die Einrichtung eines Hygieneinstituts aus; ebenso stand er Darwins Evolutionstheorie skeptisch gegenüber. Mit anderen Punkten wiederum, so Hahn, lag Virchow richtig. Dieser habe sein Leben lang dem Antisemitismus eine "Abfuhr" erteilt und im Widerspruch der zu seiner Zeit geltenden Rassenkunde nachgewiesen, dass in den Schädeln unterschiedlicher "Rassen" keine Unterschiede zu verzeichnen sind.
Im Vortrag "Virchow "trifft" Döblin: Biographische Anknüpfungs- und Berührungspunkte – ein Versuch" schlug Prof. Dr. med. Matthias David die Brücke zwischen Rudolf Virchow und Alfred Döblin, wobei auf tatsächliche und potentielle Berührungspunkte eingegangen wurde. An erster Stelle stünden hier natürlich die Stadt Berlin und der medizinische Hintergrund, es gäbe aber noch mehr Gemeinsamkeiten: So stammen beide aus Pommern (dem heutigen Polen) und wie auch Virchow entstammte Döblin einer bürgerlichen Familie – nachdem sein Vater mit einer Geliebten in die USA auswanderte, wuchs dieser allerdings in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Zugang zum Medizinstudium war Döblin nur möglich, weil ein vermögender Onkel dafür bezahlte. Hier sieht Prof. David eine Parallele zu Virchow, der in der preußischen Armee einen Onkel hatte, welcher vermutlich für Virchows Einführung am Hof verantwortlich war. Im Alter von 10 Jahren reiste Döblin 1888 mit seiner Familie vom Stettiner Bahnhof – laut David auch für Virchow ein wichtiger Punkt der Durchreise – nach Berlin, worüber der Autor später berichtete: "Es war gewissermaßen meine Nachgeburt."
Viel von Virchows Berlins finde sich auch in Döblins Berlin wieder, etwa in "Berlin Alexanderplatz": Döblin hätte unter anderem den Zentralvieh- und Schlachthof sowie das "Irrenhaus" in Buch in sein Werk aufgenommen, das ebenfalls zum Teil auf Virchow zurückgehe. Außerdem habe Döblin auch bei Rudolf Virchow im Hörsaal gesessen, betont Prof. David. Einen weiteren (traurigen) Aspekt, den Döblin und Virchow teilen, ist ihre Rezeption zu Zeiten des Nationalsozialismus. Während der 1902 verstorbene Virchow aufgrund seiner Anschauungen zum Teil als “Jude” verschrien und seine Werke abgelehnt wurden, spürte Döblin die Verfolgung durch die Nationalsozialisten am eigenen Leib: Auf dem Höhepunkt seines Erfolges musste der Autor aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus Deutschland fliehen, seine Bücher fielen Verbrennungen zum Opfer. Leider, betont David, konnte Döblin nach seiner Remigration in Deutschland nicht wieder Fuß fassen und schrieb 1946: "Und als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder."
Abschließend kam der Autor Deniz Utlu, 2021 mit dem Alfred-Döblin-Preis der Akademie der Künste ausgezeichnet, zu Wort. Dieser sieht eine große Gemeinsamkeit zwischen Ärzten und Autoren in ihrer Verantwortung den Menschen gegenüber: In beiden Bereichen müsse man immer seinen Patienten beziehungsweise seinen Figuren unvoreingenommen gegenüber stehen. Eine Figur etwa wie den "Berlin Alexanderplatz"-Protagonisten Franz Bieberkopf habe Döblin ohne Vorverurteilungen geschaffen. Die Figur sei nicht unbedingt sympathisch – man müsse sie aber dennoch aushalten. Hier sieht der Autor eine große Parallele zum Arztberuf: Auch dort sollten Patienten immer unvoreingenommen behandelt werden.
Hier reihte sich in der abschließenden Debatte auch Prof. Sehouli ein: Man dürfe die Biographien von Menschen niemals zu früh bewerten – weder bei literarischen Figuren noch bei Patienten. Dies könne den Zugang zu Menschen versperren. Autor:innen hätten oft die Fähigkeit, Dinge zu beschreiben, ohne diese zu bewerten und verschiedene Perspektiven einzunehmen. Insofern könnten Ärztinnen und Ärzte von der Literatur lernen, besser zuzuhören – dieser Aspekt werde in der Medizin manchmal vergessen. Diesem Punkt stimmt auch Dr. Adak Pirmorady-Sehouli zu: Im Umgang mit Patienten sei es unumgänglich, zuzuhören und zu behandeln. Manche Fragen, vor allem zu Gefühlen wie Angst, Wut, Verzweiflung oder Trauer, könnten nicht allein über evidenzbasierte Medizin beantwortet werden. Hier könnten etwa Kunst oder Literatur ein fehlendes Bindeglied zwischen Ärzten und Patienten schaffen.
Quelle: Ringvorlesung Medizin und Literatur "Blut und Tinte": "Verantwortung für den Menschen: Rudolf Virchow "trifft" Alfred Döblin"; 24.11.2021