Was bringt Gendermedizin für Frauen und Männer? Diese Frage beschäftigt Forschungsgruppen und mich seit längerem zunehmend. Grundsätzlich möchte ich das Thema unterscheiden vom Stichwort Gendern - Leider ist „Gendern“ eine Art Triggerwort geworden. Wobei ja längst geklärt ist, dass wir im Deutschen hauptsächlich generisches Maskulinum verwenden. Aber darum geht es jetzt nicht. Die Gendermedizin ist für uns alle etwas sehr Wertvolles - nichts Geringeres als eine Weiterentwicklung der Medizin.
Unsere Medizin orientiert sich nicht an Individuen, sondern an einem männlichen Durchschnittspatienten: ca. 1,80 Meter groß, weiß, 80 Kilo schwer. Alle, die dieser Norm nicht entsprechen, fallen durchs Raster. Das sind vermutlich mehr als drei Viertel der Menschen. Und es betrifft nicht nur die Anwendung der Medikamente und Therapien, sondern auch die Diagnostik, die Bewertung der Symptome, die Darstellung und Beschreibung von Krankheiten. Wie das passieren konnte, ist relativ klar: In einer sehr männlich geprägten Medizin hat man sich für männliche Probanden und auch für männliche Versuchstiere entschieden. Es gab Zeiten, da konnte man es nicht besser. Heute kann man sagen: Mehr als 50 Prozent der Menschen auszugrenzen, ist nicht zeitgemäß und bleibt hinter den Möglichkeiten zurück.
Mittlerweile ist das Nichtbeachten der Gender-Aspekte oder individueller Daten nicht nur rückschrittlich, sondern sogar gefährlich. Ein Beispiel: Männliche Patienten haben eine sehr hohe Rate an unerkannten und unbehandelten psychischen Erkrankungen. Sie haben eine sehr hohe Selbstmordrate im Vergleich zu weiblichen Menschen. 7478 der 10304 Suizide im Jahr 2023 betrafen männliche Menschen. Ihre psychischen Symptome erkennen und verstehen wir oft nicht. Wir haben häufig nicht auf dem Schirm, wie sich bei einem Mann eine Depression äußert. Bei der mentalen Gesundheit haben wir nämlich einen sehr weiblichen Blick auf die Medizin - und vergessen, dass männliche Menschen genauso bedürftig nach einer guten Versorgung ihrer mentalen Gesundheit sind. Oder: Männliche Menschen haben sehr häufig mit Suchterkrankungen und gesundheitsbelastendem Verhalten zu tun. Und es gibt wenig gesundheitspolitische Strategien für sie, gesünder zu werden.
Für Frauen sind andere Dinge sehr gefährlich. Sie werden zum Beispiel seltener reanimiert. Frauen warten bis zu einer Stunde länger in Notaufnahmen, wenn sie Schmerzen haben. Frauen bekommen bei gleicher Schmerzstärke weniger Schmerzmittel als Männer. Frauen sterben dreimal häufiger an Herzinfarkt. Eine der Ursachen ist, dass Frauen andere Symptome haben und Herzinfarkte gar nicht erst erkannt werden. Wir wissen das zwar schon teilweise, das Wissen hat jedoch nicht die Breite der Behandelnden durchdrungen, ebenso wenig wie die gesellschaftliche Auffassung vom Schmerzbild Herzinfarkt.
Wir können uns als Gesellschaft fragen, warum das alles immer noch so ist und ob wir die geschlechterspezifischen Nachteile weiter akzeptieren wollen.
Denn die Medizin kann sich weiterentwickeln, hin zu einem ganzheitlichen Ansatz, der die Patienten und Patientinnen als Individuum sieht, wahrnimmt und behandelt. Wir verfügen über sehr viele Gesundheitsdaten, die wir individuell ableiten können. Wir können unsere evidenzbasierte Medizin nehmen und die großen Studien an n=10.000 Patientinnen, von großen Gruppen auf die einzelnen Patientinnen rückschließen und diese dann auf die n=1 Frage umsetzen und dem jeweiligen Patienten dadurch Vorteile verschaffen.
N=1-Datenableitungen und Therapien sind hervorragend, eben in Kombination mit großen Studien. Wir können mit Armbändern EKGs ableiten oder Schlaf, Puls, Blutdruck, Blutzucker sowie Zyklus messen. Diese Daten sind dann durch Ärzte und Ärztinnen auswertbar und es kann eine starke Gesundheit entstehen. Wir sind den Möglichkeiten der individualisierten Medizin schon sehr nahe.
Die gröbste Unterscheidung zwischen Menschen ist die in Männer und Frauen. Früher dachte man, Frauen seien einfach kleinere Männer, heute weiß man, beide Geschlechter bedürfen einer unterschiedlichen Diagnostik und Therapie. Und dann gibt es natürlich weitere individuelle Merkmale, wie Stoffwechsel, Größe, Körpermasse, Alter, Familiengeschichte, Herkunft, Risiken für gewisse Erkrankungen. Es gibt sogar regionale Aspekte, medizinische Unterschiede zwischen Individuen in Bayern und Menschen an der Ostsee.
Personalisierte Medizin ist die adäquate Weiterentwicklung der Medizin. Wir können weiterdenken als One size fits all. In der Gendermedizin geht es genau um diese individualisierte Erhebung von medizinischen Daten und der daraus folgenden Behandlung. Das ist also keine Geschlechtsmedizin.
In der personalisierten Medizin ist Geschlecht ein Merkmal unter vielen - zwar ein sehr wichtiges, doch eines unter vielen. Daher sollten meiner Meinung nach alle Forschungsprojekte, die personalisierte Medizin nicht mitdenken, hinterfragt werden. Drittmittelvergaben hingegen, die individualisierte Medizin im Blick haben, sollten gefördert werden. Individuelle Medizin ist natürlich auch für uns Ärztinnen und Ärzte anstrengender. Wir brauchen mehr Zeit und können dies nicht nebenbei leisten. Entlastung in Bürokratie und kluge Algorithmen, die uns helfen, um die Riesendatenmengen zu lesen und auszuwerten, sind notwendig. Dann können wir die einzelnen Patienten und Patientinnen erkennen und ihnen helfen eine starke Gesundheit zu behalten.
Ich bin gespannt auf Ihre Perspektive.
Ganz individuelle Grüße sendet Ihre Mandy Mangler