Im Rahmen einer produktiven Medizin haben wir in den letzten Jahrzehnten auch deswegen sehr gut dagestanden, weil wir die Mittel dazu hatten. Operationstechniken und Diagnostik haben sich enorm weiterentwickelt. Leider haben wir daneben die sprechende Medizin, das Verstehenwollen nicht in gleichem Maße beachtet. Das Sprechen ist in den Hintergrund geraten. Wenn Technik eingesetzt wird, wenn etwas eingenommen wird, dann gibt es das gute Gefühl, etwas gemacht zu haben. Während sich alle möglichen medizinischen Zweige weiterentwickelt haben, ist die sprechende Medizin zurückgeblieben.
Aber wir müssen Erkrankungen verstehen, und es ist unabhängig von der notwendigen Diagnostik essentiell, miteinander zu sprechen. Man muss sich bei einem Bandscheibenvorfall natürlich den Zustand der Bandscheibe ansehen. Aber das genügt nicht. Ich denke, wir investieren Ressourcen und Geld in Dinge, die wir gar nicht richtig verstehen. Bei der Bandscheibe bedeutet das, zu verstehen, warum ein Mensch es nicht geschafft hat, sich rechtzeitig mehr zu schonen oder nicht mit Sport und Physiotherapie begonnen hat. Das ist in meinen Augen existenziell, denn wenn wir diese Form der Medizin nicht beachten, geraten wir in eine Kostenfalle.
Im Moment macht man einfach alle Untersuchungen und Therapien, die möglich und notwendig sind – es wird aber vergessen, dass eine Operation niemals die ganze Lösung sein kann. Wir brauchen das psychosomatische und psychodynamische Verständnis, um die Erkrankung so zu verstehen, dass man etwas im Verhalten ändern kann. Und zwar nicht, weil der Arzt zum Beispiel sagt: Hören Sie auf zu rauchen. Das funktioniert nie! Sondern weil der Patient versteht, worum es geht und dann etwas ändern will.
Das ist das Schöne an der Psychosomatik, dass ich mit Patienten arbeiten kann, die etwas verstehen und ändern wollen. Patienten, die passiv bleiben und sagen: Machen Sie mich gesund, kann ich nicht wirklich gut helfen.
Psychosomatik braucht leider Zeit und damit auch Geld. Aber im Vergleich zu apparativen Diagnostiken und Behandlungsformen ist sie eigentlich nicht so teuer. Wir gucken, wo abseits vom Physischen die Probleme wirklich liegen. Ich empfinde es als großen Reichtum, dass ich so arbeiten darf. Ich bin ja Ärztin geworden, weil mich Menschen allgemein und auch speziell jede Patientengeschichte interessieren – sodass ich für jeden offen bin, der zu mir kommt. Und die meisten Menschen finden auch im Erstgespräch einen Zugang zum psychosomatischen Ansatz. Es ist eher selten, dass wir auseinander gehen müssen, weil Patienten dem psychosomatischen Zugang nichts abgewinnen können. Und selbst wenn sie unseren Vorschlägen nicht folgen möchten, nehmen sie aus dem Erstgespräch etwas mit.
Patienten kommen leider meist zu spät zu uns, weil sie lange in der Organmedizin behandelt werden. Erst wenn die Problematik durch OPs oder anderes organisch gelöst worden ist, die Schmerzen aber bleiben, werden Patientin zu uns geschickt. Wenn die Behandler nichts mehr tun können, dann vermuten die Kollegen oft eine somatoforme Störung. Das ist aber nicht unbedingt so. Denn es gibt ja wirklich ein körperliches Leid, das Schmerzen verursacht. Aber man kann daran arbeiten, dass der Mensch seine Situation annehmen kann und die bestmögliche Linderung findet.
Das gilt beispielsweise auch für chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa, wo trotz Therapien die Entzündung immer wieder auftritt. Man kann davon ausgehen, dass es Trigger gibt, die der Patient nicht kennt, die dazu beitragen, dass er nicht genesen kann. Auch diese Patienten kommen oft sehr spät. Einfach weil die Psychosomatik vielfach unterschätzt wird.
Meine Idee ist, bei Erkrankungen von Anfang an eine psychosomatische Begleitung einzubeziehen – sodass frühzeitig ein erstes Verständnis für die Erkrankung entwickelt wird.
Manchmal haben unsere Patienten die Angst, dass man sie für psychisch krank hält. Aber Psychosomatik bedeutet einfach zu respektieren, dass der Mensch nicht nur aus Materie besteht und auch nicht nur aus Geist. Es ist falsch, den Menschen nur als Körper zu sehen. Jeder Eingriff in den Körper bedeutet auch eine größere oder kleinere seelische Veränderung. Und ich bin dafür, das von Anfang an mitzudenken. Also ehe man beispielsweise ein Lipom am Arm entfernt, was eine Narbe erzeugt, die dann wiederum weggelasert werden soll, kann man ja mal mit einem Psychodynamiker darüber reden, warum das Lipom eigentlich so stört. Auf diese Weise kann man durchaus einiges Leid vermeiden. Es geht nicht darum, der Patientin mit dem Lipom etwas auszureden, sondern in die Reflektion zu gehen und vielleicht eine andere Haltung zu finden. Und wenn sie sich damit auseinandergesetzt hat, warum sie sich daran stört, hat sie hinterher weniger Probleme mit der Narbe, einfach weil sie eine reflektierte Entscheidung getroffen hat.
Bei der Magenband-Op ist es bereits obligat, dass vor der OP ein psychosomatisches Gespräch stattfindet. Auch bei Lebertransplantationen ist das so. In einigen Bereichen findet das also längst statt. Und ich glaube nicht, dass es zu aufwändig ist oder zu viel Zeit kostet, parallel zur Behandlung oder zur OP-Vorbereitung eine psychodynamische Feststellung der Struktur des Patienten zu machen.
Ich denke, dass wir als Gesellschaft generell zu wenig Raum für Reflexion haben. Es müsste en vogue werden, so dass es cool ist, zur Psychosomatikerin zu gehen. So wie zum Yoga, Pilates oder zur Kosmetik – um sich etwas Gutes zu tun. Aber noch gibt es ein verbreitetes Unbehagen, die Dinge näher anzugucken. Es ist leichter, bei Schlafstörungen eine Pille einzuwerfen, als Schritt für Schritt den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist mühsam und unbehaglich. Aber es ist hilfreich, Gesundheit auf diese Weise zu erhalten und nicht Gesundheit einfach konsumieren zu wollen. Deswegen sage ich: Mehr Psychosomatik wagen!