Wie ein Arzt den Krieg erlebt Logo of esanum https://www.esanum.de

Was bedeutet Krieg?

Auf jeden Krieg folgt ein nächster. Für Dr. Igor Auriant erinnert der Krieg in der Ukraine an seinen Einsatz in Liberia. Auch dort trug der Tod die gleiche abscheuliche Maske.

Erinnerungen an den Krieg in Liberia, 1990

Übersetzt aus dem Französischen

Dr. Igor Auriant ist Intensivmediziner in einer Klinik in Rouen, Frankreich. Als wir ihn fragten, ob er Fotos von seinem Einsatz in Liberia aufbewahrt, war seine Antwort vielsagend: "Ich habe welche, doch ich hole sie nie hervor, es ist immer noch zu schmerzhaft." Nach weiteren Einsätzen mit Médecins du Monde, im Iran und in Haiti, gab es eine psychologische Nachbesprechung. Nicht so in Liberia. "Wir haben viel abbekommen und ich habe alles vergraben."

Sprechen über den Tod

Der Tod kann sanft sein, manchmal muss der Arzt einfach nichts tun. Igor Auriant erkannte dies zu Beginn seiner Karriere, als er eine 90-jährige Frau behandelte, die einen Schlaganfall erlitten hatte. Er ließ sie gehen, wie Jahre später einen noch jungen Patienten im Endstadium seiner Krankheit. Den Tod machen lassen und die Worte machen lassen, die man den Angehörigen erzählt. In seinem TEDx Talk1 über den Tod mit dem Titel "Was wäre, wenn wir in Frieden mit dem Leben sterben würden?” beschwichtigt Dr. Auriant und spricht von seiner Beschwichtigung.

Doch dann gibt es noch den anderen, den Tod der Massen, , der irgendwann ermüdet, den Tod in Hunderterpackungen, den Tod der Kriege, der Erdbeben, den Tod durch COVID-19. An diese Mengen von Toten  kann sich kein Arzt gewöhnen, weil sie den Schrecken inakzeptabler Todesfälle verschleiern. Dr. Auriant engagiert sich. Er geht auf Missionen, wann immer er kann. Und wenn er nicht mehr kann, hilft er anderen bei der Abreise.  Er setzt bei der Leitung seines Krankenhauses durch, dass das von Médecins du Monde angeworbene Personal ausgewechselt  und bezahlt wird. Das war vor dem Kouchner-Gesetz, und fünf oder sechs Pflegekräfte werden sich dank seiner Hilfe mehrfach Missionen anschließen.

"In diesen Tagen ist es wie beim Erdbeben in Haiti, ich schaue auf den Fernseher und denke mir: Ich sollte dort sein." Im Jahr 2010 reiste Igor Auriant sofort ab, als er die Bilder sah. "Für die Ukraine habe ich mich beworben, aber da bin ich noch auf der Warteliste." Wenn man nicht handeln kann, muss man sprechen. Vom Krieg erzählen, schmutzig, kalt und roh. Erzählen, dass die Totenscheine, die ausgestellt werden, nicht einfach nur Zahlen sind, sondern Leichen, die verrotten.

Diesmal begleiten die Worte des Arztes keinen friedlichen Tod. Sie schreien die abscheuliche Seite des Todes im Krieg heraus. Um ihn daran zu hindern, sich zu nähern und seinerseits in die Erinnerung einzugehen.

Kriegsbericht aus Liberia von Dr. Igor Auriant

Wir werden sechs Tage lang im Norden Liberias als Geiseln festgehalten und durch den Sieg von Charles Taylor befreit. Nach einem Kontakt mit Paris fällt die Entscheidung im Team: Wir gehen weiter.

Mit unseren beiden Jeeps geht es Richtung Monrovia. Das ganze Land ist zu durchqueren, grob geschätzt zehn bis zwölf Stunden Fahrt. Taylor hat gewonnen, es sollte ruhig sein. In Wirklichkeit gibt es alle zehn Kilometer einen Checkpoint, ein über die Straße gespannter Stacheldraht. Du hältst an, ein Junge kommt mit seinem Maschinengewehr, zielt auf dich, dann senkt er den Draht und du fährst vorbei.

Nein, er zielt auf dich und schreit "Zigarette!". Du suchst in deiner Tasche nach der rettenden Zigarette, gibst sie ihm, er lacht und du beobachtest, wie sein Finger am Abzug zittert. Schließlich senkt sich die Waffe und erst dann zieht er den Draht hinunter. Du fährst vorbei, endlich, aber es geht alle 20 Minuten weiter, bis nach Monrovia. Jedes Mal greift meine Hand nach der Zigarettenschachtel, dem Schlüssel zum Überleben.

Plötzlich, auf der Straße eine Bodenwelle, eine Vertiefung und der andere Geländewagen fliegt weg. Er findet sich weiter unten wieder, mit zwei Rädern, die in einem Fluss liegen. Innerhalb weniger Augenblicke sind wir vor Ort und finden die Insassen, die unversehrt sind. Wir müssen das Fahrzeug mit einer Winde aus dem Wasser ziehen.

Der Wasserfriedhof

Ich halte Ausschau nach unserer Krankenschwester. Sie liegt zitternd am Straßenrand. Ich gehe näher heran, weil ich denke, dass ich ihre Emotionen verstehen kann - die Angst nach dem Unfall. Sie ist sehr blass und zittert am ganzen Körper, kein Wort kommt aus ihrem Mund. Trotz ihres Zitterns zeigt sie mit dem Finger auf das Fahrzeug im Wasser. "Da, da". Ich schaue auf den Fluss, auf das Auto im Wasser. Ringsherum schwimmen Leichen, von der Sonne aufgeblähte Menschen, mal auf dem Rücken, mal auf dem Bauch.

Das unbeschreibliche Bild eines Wasserfriedhofs. Unmengen von Leichen, die der Sonne, dem Wasser und den Hunden überlassen werden. Dieser Tod treibt umher und wird gezählt, erst einer, dann zwei, dann drei. Jeder Tod ist eine zusätzliche Last, ein Stigma unserer Untätigkeit. Jeder Tod ist ein Affront gegen unsere Menschlichkeit. Keine Liebe, keine Grabstätte; nur Leichen.

Der Tod, der dir erklärt, was du bist, der Tod, den du doch kanntest ... aber den du dir nie ohne Menschlichkeit vorgestellt hast. Die Sonne schien an diesem Tag, der für die einen ein Tag des Sieges und für uns ein Tag der Freiheit war. Und für jene dort im Wasser, ein unsägliches Schicksal. An diesem Tag, das Recht zu töten ... Ich hätte den Kopf verloren. Wer kann so entscheiden, drücken, schießen? Wer kann damit leben?

Der Alkohol, der Fahrer und die Hunde

Späte Ankunft in Monrovia. Wir fahren zum Krankenhaus, es ist dunkel. Nur von unseren Stirnlampen beleuchtet, betreten wir einen namenlosen Ort, an dem Kranke ohne Namen überleben, ohne Infusionen, ohne Betten, ohne Decken, ohne Medikamente. Ein vom Krieg verwüstetes Krankenhaus, in dem nur noch diejenigen übrig sind, die nicht fliehen konnten, wo die Lebenden alles gestohlen und geplündert haben und wo nichts mehr übrig ist.

Also legen wir Infusionen, verabreichen Medikamente, legen Verbände an. Und wir reden. Wir stellen die wenigen Betten auf, die wir finden. Den Anschein von Menschlichkeit wiederherstellen: Ein dürftiges Gesundheitszentrum mit dürftig behandelten Patienten.

Rückkehr ins Basislager, wir werden morgen wiederkommen, versprochen. Im Lager gibt es Journalisten, andere humanitäre Helfer, es wird gelacht, gelächelt, geweint. Da ist dieser Kriegsberichterstatter, ein Reuters-Journalist, ein alter Hase, der über Vietnam berichtet hat. Er sitzt in einer Ecke und sagt immer wieder, dass er so etwas noch nie gesehen hat, noch nie Kinder töten gesehen hat, noch nie Tote liegen gelassen hat, noch nie ein Gewehr gesehen hat, das schießt bevor du weißt auf welcher Seite du stehst, einfach so, nicht um zu beschützen, nicht um zu verteidigen, einfach nur, um zu töten.

An diesem Abend trinken wir diesen beschissenen Alkohol, der irgendwoher stammt, dessen Wärme dich aber einlullt und dich in den Schlaf sinken lässt, um den morgigen Tag zu überleben. Wir trinken mit ihm, dem Veteranen. Es gibt nichts anderes zu tun.

Am nächsten Tag auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Sieg wurde ausgiebig gefeiert, die Straße ist mit Leichen übersät. Die Hunde laufen in der Mitte herum, sie haben keinen Hunger, die Speisekammer ist da, weit offen. Das Krankenhaus ist fast völlig zerstört. Die Verwundeten, die wir gestern versorgt haben? Einige haben eine Kugel in den Kopf bekommen. Anderen wurde die Infusion gestohlen. Die Schränke sind noch leerer und die Toten noch zahlreicher. Die letzten Verletzten, die letzten Lebenden, diejenigen, die nicht fliehen konnten, liegen inmitten der Toten. Wir können niemanden operieren, wir legen allen Verbände an. Wenigstens etwas Sauberes machen.

Das Auto draußen wird von unserem Fahrer bewacht. Er wird durch einen Kopfschuss getötet. Unglaubliches Elend, nicht der richtigen ethnischen Gruppe anzugehören. Das erfahren wir, als wir aus dem Krankenhaus kommen. Die anderen liberianischen Fahrer schubsen uns ins Auto und befehlen uns, zu fliehen. Der Krieg in seiner ganzen Schönheit, ohne Musik.

Hier begegneten wir dem Tod, wie er für uns nicht existierte. Ein unwürdiger Tod, ein willkürlicher Tod, von denen, die blindlings junge wie alte Menschen niedermähen. Ein Tod, den du nicht verstehen kannst. Du kannst begleiten, du kannst helfen. Du kannst nicht das verdammte Gewehr nehmen und abdrücken.

Der Tod, die Antithese zum Leben. Auch er musste erzählt werden. Der Tod von Einem oder der Tod von Tausende. Denn zu jedem Tod gehört ein Mensch.
 

Anmerkungen

1  TEDx Talks werden auf YouTube ausgestrahlt und behandeln ein Thema oder eine Idee vor einem Publikum, bei einer Länge von maximal 18 Minuten. Der TEDx Talk von Dr. Igor Auriant ist unter diesem Link zu finden.