Dr. Fourcade: "Jede Begleitung ist einzeln zu betrachten und emotional extrem"
Dr. Claire Fourcade ist Vorsitzende der Französischen Gesellschaft für Palliativmedizin und ‑begleitung.
... ist eine Sammlung von Artikeln, die esanums deutsch-, italienisch-, englisch- und französischsprachige Redaktion zusammenbringt, um eine globale Perspektive auf die aktuellen Themen und Geschichten zu bieten, die das Leben von Ärzten beeinflussen.
In unserer zweiten Beitragsserie "Begleitung am Lebensende | End-of-Life Care" interviewen wir Ärztinnen und Ärzten, die sich mit dem Thema Sterben beschäftigen und Menschen am Ende ihrer Lebensphase begleiten. In allen Interviews, die wir führten, wurde betont, wie wichtig es ist, sich diesem Thema anzunehmen, denn die Begleitung von Menschen am Lebensende ist eine der menschlich anspruchsvollsten Aufgaben von Ärzten und erfordert oft Entscheidungen, die nicht einfach zu treffen sind.
Die Interviewserie ist eine Kollaboration der Redaktionsteams von esanum.de, esanum.fr, esanum.it und esanum.com. Die jeweiligen Artikel bilden die Perspektive unserer Interviewpartnerinnen und -partner ab und stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion dar. Durch Übersetzungsprozesse kann es zu Einbußen im sprachlichen Ausdruck kommen, die im jeweiligen Original nicht vorhanden sind.
Der Mensch in der Endphase des Lebens
Übersetzt aus dem Französischen
Ist das Lebensende eine Sache des Pflegepersonals oder eine Frage der Gesellschaft?
Beides kann nicht voneinander getrennt werden. Frankreich ist wahrscheinlich das Land, das die meisten Gesetze zum Thema Lebensende erlassen hat. Dies ist von entscheidender Bedeutung, denn die drei großen Gesetze1, die den Rahmen für die Palliativmedizin bilden, vermitteln den betroffenen Patienten eine starke Botschaft der Solidarität: "Sie sind uns wichtig, deshalb entscheiden Sie selbst, wie Ihr Lebensende aussehen soll. Daher werden Betreuer Sie unterstützen, ganz gleich, welcher Aufwand auch vonnöten ist, selbst wenn dies möglicherweise das Ableben beschleunigt."
Wir Ärzte sind verpflichtet, den Willen der Patienten zu respektieren. Wir verfügen über ein breites Spektrum an Sedierungspraktiken, von der Anxiolyse bis hin zur tiefen und kontinuierlichen Sedierung bis zum Tod.
Der derzeitige Rechtsrahmen scheint mir ausreichend zu sein. Es ist jedoch wichtig, dass diese Gesetze allen – Patienten ebenso wie Pflegekräften - bekannt sind und auch angewendet werden. 2021 führte die Französische Gesellschaft für Palliativmedizin (SFAP) eine Umfrage unter allen Beteiligten durch: Pflegekräfte, Psychologen, Sozialarbeiter u.a. 75% der Befragten gaben dabei an, dass sie bereits Schwierigkeiten bei der Umsetzung der bestehenden Gesetze hatten. Eine der Folgen ist die Unterbrechung des Pflegeverlaufs.
Eine andere Umfrage, die von der Ärztekammer durchgeführt wurde, ergab, dass sich jeder zweite Patient nicht ausreichend über die Gesetzgebung zum Lebensende informiert fühlt.
Die SFAP vertritt eine einfache Idee: Palliativmedizin muss frühzeitig, überall und für jeden verfügbar sein. Davon sind wir weit entfernt. Zwei Drittel der Patienten, die eine solche Versorgung benötigen würden, haben keinen Zugang dazu. Was sind die Gründe dafür? Oft sind es mangelndes Wissen, fehlende Mittel und eine unzureichende Ausbildung.
Das Thema Lebensende wurde während des Präsidentschaftswahlkampfes aufgegriffen. Ist das ein positives Signal?
Präsidentschaftskandidat Macron sprach über ein Projekt für einen Bürgerkonvent. Nach der Zeit des Handelns während der Covid-Epidemie kommt nun die Zeit des Reflektierens. Welche Veränderungen strebt dabei die französische Gesellschaft im Umgang mit dem Thema Lebensende an?
Diesbezügliche Debatten fallen meist verkürzt aus oder sind oft nur Schwarzweiß. In der Regel geht es allein um die medizinische Hilfe beim Sterben, sei es Sterbehilfe oder assistierter Suizid. In meinem Alltag als Ärztin werden diese beiden Möglichkeiten von den Patienten jedoch nur selten angesprochen. Wir werden vielmehr um Rat gefragt bezüglich einer Begrenzung oder Beendigung der Behandlung.
Palliativmediziner stehen der Idee eines Bürgerkonvents offen gegenüber, vorausgesetzt, dass ihre Stimme auch gehört wird. Denn was wir täglich erleben, macht unsere Stimme mehr als legitim, und wir werden viel zu sagen haben. Zum Beispiel, dass die Situationen in der Palliativmedizin sowohl individuell als auch komplex sind und dass es, wie ich es nenne nicht nur Schwarz und Weiß gibt, sondern "50 Shades of Grey".
Während dieses Konvents werden wir auch daran erinnern, dass wir durchaus wissen, dass die Erwartungen der Patienten nicht allein auf den Wunsch zu sterben reduziert werden können, gerade weil wir ihnen in diesen Momenten, in denen sie an dem zweifeln, was sie selbst wollen, zur Seite stehen. Eine weitere Hürde in dieser Debatte: per Definition können Palliativpatienten hier nicht sprechen. Es werden nur gesunde Menschen gehört.
Wie stehen französische Pflegekräfte dem Thema Sterbehilfe und assistierter Suizid gegenüber?
Ein weiterer Grund, warum Palliativmediziner ihre Stimme erheben müssen, ist die Tatsache, dass sie auch selbst betroffen sind. Im Zusammenhang mit dem Thema Sterbehilfe sagte eine Senatorin, dass "die Seelenlage der Ärzte hinter dem Interesse der Gesellschaft zurücksteht". Das schockiert mich, denn schließlich ist es der Arzt, der den tödlichen Eingriff vornehmen muss.
Es ist oft sehr schwierig, das Zimmer eines todkranken Patienten zu betreten. Wie kann man dann die Person sein, die zuhört und gleichzeitig die Person, die einen tödlichen Eingriff in Erwägung zieht? Wie kann man mit anderen Palliativpatienten neue Beziehungen eingehen, wenn man bereits weiß, wie diese Beziehungen enden werden?
Unserer Umfrage aus dem Jahr 2021 zufolge sind 96% der an der Hospiz- und Palliativversorgung beteiligten Personen gegen die Idee, dass Pflegekräfte an der Sterbehilfe beteiligt sind. Bei den Ärzten liegt diese Zahl sogar bei 98%. Wenn das Gesetz die Sterbehilfe ermöglichen würde, würden 40% der befragten Ärzte ihre Stelle aufgeben und ebenso viele würden die Durchführung der Sterbehilfe unter Berufung auf ihre Gewissensklausel ablehnen. Von den 20%, die sich nicht äußern, können sich einige eine solche Situation einfach nicht vorstellen.
Was im Falle einer Legalisierung der Sterbehilfe befürchtet wird, ist eine tiefgreifende Destabilisierung der Palliativpflege. 80% aller Teilnehmer an unserer Umfrage waren der Meinung, dass dies zu Spannungen innerhalb der Teams führen würde.
Anders verhält es sich mit dem assistierten Suizid. Dies könnte ein Weg sein, der weiterverfolgt werden sollte, da das Gesetz derzeit auf die Problematik der Menschen eingeht, die sterben werden, nicht auf die, die sterben wollen. Diese Frage ist jedoch eine gesellschaftliche Frage und betrifft die Pflegekräfte weniger direkt.
Sind Ärzte ausreichend in der Palliativmedizin ausgebildet?
Wir müssen mehr spezialisierte Ärzte ausbilden, die sich mit solch komplexen Fällen befassen. Die Priorität ist jedoch, dass jeder Arzt, insbesondere der Allgemeinmediziner, die Grundlagen der Palliativmedizin kennt. Im universitären Studium wird Palliativmedizin aber nur in etwa zehn Stunden gelehrt. Wie soll sich da ein junger Arzt in der Lage fühlen, Patienten zu betreuen, die so heftig leiden und mit dem Tod konfrontiert sind?
Wir möchten, dass jeder zukünftige Arzt während seiner Ausbildung ein mehrtägiges Praktikum in einem Palliativteam absolviert. Um die Philosophie des Palliativteams zu verstehen, aber vor allem, damit es für ihn selbstverständlich wird, diese Teams anzufordern.
Was ist mit der häuslichen Palliativpflege?
70% der Menschen würden gerne zu Hause sterben. Diese Form der medizinischen Versorgung wird immer häufiger, ist aber weiterhin schwierig. Denn die Voraussetzungen dafür sind nicht immer gegeben (Es bedarf einer Familie oder Angehöriger, die das Vorhaben unterstützen, eines geeigneten Heims und nicht zuletzt auch an Pflegepersonal, das anwesend und bereit ist...). Einige Therapien sind zu Hause ebenfalls schwierig umzusetzen: eine Sedierung ist komplex. Weil eine 24-stündige Verfügbarkeit gewährleistet sein muss und ein Ausweichbett zur Verfügung stehen muss. Und weil auch die Angehörigen begleitet werden müssen.
In der häuslichen Umgebung wird der Hausarzt während der palliativen Phase zur Stütze dieses "kurzlebigen Teams". Dieser sehr treffende Begriff, den ich von einer jungen Kollegin übernommen habe, umfasst das Personal aus Gesundheitsfachberufen, das Palliativteam und die Familien.
Viele Pflegekräfte berichten über den Sinnverlust ihres Berufes. Was kann hier die Palliativmedizin leisten?
In den 1990er Jahren betrat die Palliativmedizin ein Feld, das von den Ärzten verlassen worden war. Ärzte gingen nicht in die Zimmer Sterbender. Mittlerweile leeren sich ganze Krankenhäuser. Das Pflegepersonal wirft das Handtuch, weil es unmöglich ist, Patientengespräche oder Körperpflege in fünf Minuten zu erledigen.
Diese Sinnkrise im Namen der "Rentabilität" scheint mir gravierend. Ich weiß nicht, wie wir aus dieser Situation herauskommen wollen, aber ich beobachte, dass die Palliativteams viel stabiler sind als andere Teams, mit weniger Fluktuation und weniger krankheitsbedingten Ausfällen.
Ich glaube, das liegt daran, dass wir dem, was wir tun, ständig einen neuen Sinn verleihen. Jede Begleitung ist einzeln zu betrachten und emotional extrem. Wir müssen uns daher ständig selbst in Frage stellen. Und wir tun dies in Teams, in denen alle Stimmen gleichwertig sind. Diese "Philosophie" könnte vielleicht auch anderen Pflegekräften helfen.
Die HIV-Epidemie wurde für Sie zum Schlüsselerlebnis. Warum?
Als ich Assistenzärztin war, wollte ich auf die Neonatologie. Mein Interesse galt also nicht dem Lebensende. Dann machte ich zwei Praktika, eines in der Onkologie und das andere in einer Infektionsabteilung, mitten in der HIV-Epidemie. Die Art und Weise, wie all diese Patienten starben und von den Ärzten im Stich gelassen wurden, erschütterte mich. Ich wollte es besser machen, aber die Palliativpflege in Frankreich steckte da noch in den Kinderschuhen.
Viele der Menschen, die sich heute für die aktive Sterbehilfe einsetzen, waren ebenfalls sehr betroffen vom Schicksal der HIV-Patienten. Wir teilten das gleiche Entsetzen angesichts dieser erschreckenden Todesfälle. Diese Menschen möchten daher, dass Ärzte den Tod herbeiführen dürfen, während ich der Meinung bin, dass wir die Umstände, unter denen Patienten sterben, noch verbessern können.
Diese Epidemie durchbrach auch den medizinischen Paternalismus. Die Patienten waren jung und sehr gut über ihre Krankheit informiert. Im Gegensatz zu den meisten Krebspatienten verstanden die HIV-Patienten sehr gut, was vor sich ging und dass sie vielleicht sterben würden. Zum ersten Mal entstand der Begriff des "Teams", in dem Patienten und Pflegepersonal die therapeutische Begleitung, einschließlich der Begleitung am Lebensende, gemeinsam gestalten.
Was haben Sie von Ihrem Auslandsaufenthalt in Kanada gelernt?
Nach den Praktika in der Onkologie und der Palliativmedizin haben zwei Jahre in Kanada meine medizinische Praxis grundlegend verändert, und zwar nicht nur im Bereich der Palliativmedizin. Ich entdeckte dort eine Teamstruktur, die viel weniger pyramidal und hierarchisch aufgebaut war. Das hieß für mich, dass ich danach nicht mehr für das System der Universitätskrankenhäuser geeignet war.
Kanada ist natürlich ein Vorbild für uns. Wir kämpfen für ein Palliativbett pro 100.000 Einwohner. Unsere Kollegen in Quebec dagegen haben ein Bett pro 10.000 Einwohner und kämpfen trotzdem für eine weitere Verbesserung der Situation. Dieser Kontrast untermauert die Vorstellung, dass in Frankreich schlecht gestorben wird und dass das Gesetz geändert werden muss. Ich bleibe jedoch dabei, dass wir vor allem in der Lage sein müssen, die bestehenden Gesetze konsequent anzuwenden.
Sie haben viel Erfahrung in der Palliativmedizin. Ist es Ihnen trotzdem manchmal noch unangenehm, ein Zimmer zu betreten?
Natürlich ist es das. Es kommt vor, dass ich an der Tür stehe und sehr lange tief durchatmen muss. Jede Begegnung ist individuell. Auch die Erfahrung ändert nichts daran. Was ich im Laufe der Zeit jedoch gewonnen habe, ist ein größeres Vertrauen in die Stärke der Beziehung zum Patienten. Es fällt mir jetzt leichter zu glauben, dass wir gemeinsam den besten Weg für ihn finden werden.
Dennoch habe ich immer die Befürchtung, den Erwartungen des Patienten nicht gerecht zu werden. Nicht im technischen Bereich, sondern in Bezug auf die Menschlichkeit. Ich glaube, in diesem Punkt kann man nie absolute Sicherheit gewinnen.
- 1999: Das Kouchner-Gesetz über die Autonomie der Patienten legt insbesondere das Prinzip des Rechts auf Information fest.
2005: Das Léonetti-Gesetz betont:
- die Nicht-Aufgabe von Patienten, d.h. die Verpflichtung, dem Patienten Erleichterung zu verschaffen, unabhängig davon, was es kostet,
- die Vermeidung therapeutischer Überanstrengung,
- die Ablehnung der Sterbehilfe.
2016: Das Claeys-Léonetti-Gesetz ergänzt das Gesetz von 2005. In Bezug auf die "Nicht-Aufgabe" wird auf Wunsch des Patienten eine tiefe und kontinuierliche Sedierung bis zum Tod ermöglicht, wenn die Prognose plötzlich lebensbedrohlich ist. In Bezug auf die "Nicht-Behandlung" stellt das Gesetz klar, dass Ernährung und Flüssigkeitszufuhr Teil der Behandlung sind und daher auf Wunsch des Patienten oder, wenn er sich nicht äußern kann, nach einer kollegialen Entscheidung (mindestens zwei Ärzte) beendet werden können. Mit diesem Gesetz werden auch Patientenverfügung und Vertrauensperson, die seit 2005 lediglich eine Empfehlung waren, verbindlich. Der Arzt ist verpflichtet, diese zu respektieren.