Bringt Polypharmazie mehr Menschen ins Krankenhaus? Logo of esanum https://www.esanum.de

Ist Polypharmazie ein größeres Problem, als wir uns eingestehen?

Polypharmazie steht häufig in Verbindung mit negativen Outcomes. Einer aktuellen Studie zufolge hat sich auch die Rate von Hospitalisationen aufgrund von Nebenwirkungen mehr als verdoppelt.

Prävalenz von Klinikeinweisungen und Todesfällen aufgrund von UAWs ist höher als bisher berichtet

Neue Daten aus 2022 bekräftigen, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) einen erheblichen Beitrag zu unnötigen Krankenhauseinweisungen leisten: Eine Auswertung aller Klinikaufenthalte (für mindestens 24 Stunden) eines Monats aus einem britischen Haus der Maximalversorgung stellte bei fast jedem fünften hospitalisierten Patienten (18,4%) unerwünschte Arzneimittelwirkungen fest.5 Bei 16,5% der Einweisungen waren UAWs haupt- oder mitursächlich, mit geschätzten Kosten von 2,45 Mrd. Dollar pro Jahr. Die Rate stellt eine mehr als Verdoppelung im Vergleich zu einer Studie in der gleichen Region von 2004 dar (hier waren es noch 6,5 %).6 Patienten mit Nebenwirkungen nahmen im Durchschnitt signifikant mehr Medikamente ein und hatten mehr Begleiterkrankungen. 

Zu den am häufigsten beteiligten Arzneimitteln gehören aktuell Diuretika, inhalative Steroide (ICS), Antikoagulanzien, Protonenpumpeninhibitoren (PPI), Thrombozytenaggregationshemmer, Chemotherapeutika, Antihypertensiva, Opiate und Antidepressiva/ Antipsychotika. 39,4% der Nebenwirkungen wurden als (potenziell) vermeidbar eingestuft. Die Sterblichkeitsrate aufgrund einer Medikamentennebenwirkung lag bei 0,34%.

Bei Atemwegserkrankungen häufig überverordnet: Antibiotika und ICS 

Eine aktuelle Erhebung an Hausärzten und Pulmologen aus sechs Ländern zeigte ebenfalls eine Diskrepanz zwischen "best practice" und Realität. Inhalative Kortikosteroide (ICS) wurden in der Primärversorgung zu häufig verschrieben und beim Absetzen trauten sich Hausärzte weniger als Pulmologen.7 Dieses Signal ist von etlichen neuen Studien dokumentiert worden. In einer Arbeit, die sowohl nach Über- als auch nach Untertherapie suchte, war die Überverordnung von ICS bei ambulanten Patienten mit stabiler COPD insgesamt die häufigste Abweichung von einer leitliniengerechten Therapie (17,8%).8 Es ist gezeigt worden, dass ein ICS-Entzug bei korrekter Vorgehensweise nicht mit COPD-Exazerbationen oder COPD-bedingten Hospitalisationen verbunden ist.9

Der Übergebrauch von Antibiotika findet sich zwar öfter thematisiert, jedoch zumeist im Kontext der Resistenzentwicklung und weniger in Bezug auf daraus resultierende Schäden und Nebenwirkungen. Diese sind jedoch auch signifikant, wie eine erst kürzlich im Journal of Internal Medicine veröffentlichte Studie unterstreicht.10,11 Antibiotika werden bei 50% der akuten oberen Atemwegsinfekte (aURIs) unnötig verschrieben, das entspricht aktuellen Daten zufolge allein in den USA 34 Mio. vermeidbaren Antibiotika-Verordnungen jährlich. Die Auswertung von 51 Millionen Patientenkontakten wegen aURIs über 15 Jahre hinweg ergab, dass einige der riskantesten Antibiotika nur selten indiziert waren und häufig verwendet wurden, was in schweren Nebenwirkungen, teils mit Notwendigkeit zur Hospitalisation, bei einem von 300 Patienten resultierte. Die Autoren der Studie betonen, dass die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Ereignisse wahrscheinlich viel höher ist, da ihre Analyse nur Fälle erfassen konnte, die schwer genug waren, dass es zu Folgevorstellungen in Arztpraxen oder Kliniken kam, bei denen das unerwünschte Ereignis als solches kodiert wurde. Frühere Schätzungen, die sich auf von Patienten berichtete unerwünschte Ereignisse aller Schweregrade stützen, geben deutlich höhere NNH-Werte (Number Needed to Harm) an, zwischen 8 und 10.

Fazit: Wie können wir insbesondere ältere Menschen schützen?

Um mit dem eingangs genannten Artikel zu schließen: "Leitlinienorientierte Behandlungen können zu Polypharmazie führen, d.h. zur gleichzeitigen langfristigen Einnahme mehrerer Medikamente", gibt der Verfasser, der selbst Allgemeinmediziner ist, zu bedenken.1 Auch Verschreibungskaskaden können zu Polypharmazie führen, wenn Nebenwirkungen als Symptome behandelt werden.
Polypharmazie betrifft insbesondere ältere Menschen. Durch Alterungsprozesse ist diese Population leider ohnehin von einer höheren Rate an Nebenwirkungen betroffen.2

Zum Schutz älterer Patienten existiert beispielsweise die PRISCUS-Liste, die etliche dutzend "potenziell inadäquate Medikation im Alter" (PIM) anführt, welche bei Menschen über 65 Jahren vermieden werden sollten. Ein Update zu dieser Liste soll in Kürze erscheinen. Sie nennt darüber hinaus Therapiealternativen und Arzneimittelinteraktionen zu den einzelnen Wirkstoffen, sowie (für den Fall, dass eine Verordnung nicht zu vermeiden ist) Dosierungsvorschläge und Überwachungshinweise.

Quellen:
  1. Mosshammer, D. Polypharmacy—an Upward Trend with Unpredictable Effects (23.09.2016). Deutsches Ärzteblatt https://www.aerzteblatt.de/int/archive/article?id=182230.
  2. Priscus 2.0. https://www.priscus2-0.de/.
  3. Thiem, U. et al. Reduction of potentially inappropriate medication in the elderly: design of a cluster-randomised controlled trial in German primary care practices (RIME). Ther Adv Drug Saf 12, 2042098620918459 (2020).
  4. Endres, H. G. et al. Association between Potentially Inappropriate Medication (PIM) Use and Risk of Hospitalization in Older Adults: An Observational Study Based on Routine Data Comparing PIM Use with Use of PIM Alternatives. PLoS One 11, e0146811 (2016).
  5. Osanlou, R., Walker, L., Hughes, D. A., Burnside, G. & Pirmohamed, M. Adverse drug reactions, multimorbidity and polypharmacy: a prospective analysis of 1 month of medical admissions. BMJ Open 12, e055551 (2022).
  6. Pirmohamed, M. et al. Adverse drug reactions as cause of admission to hospital: prospective analysis of 18 820 patients. BMJ 329, 15–19 (2004).
  7. Kocks, J. et al. Investigating the rationale for COPD maintenance therapy prescription across Europe, findings from a multi-country study. NPJ Prim Care Respir Med 33, 18 (2023).
  8. Rajnoveanu, R.-M. et al. Pulmonologists Adherence to the Chronic Obstructive Pulmonary Disease GOLD Guidelines: A Goal to Improve. Medicina 56, 422 (2020).
  9. Patel, S., Dickinson, S., Morris, K., Ashdown, H. F. & Chalmers, J. D. A descriptive cohort study of withdrawal from inhaled corticosteroids in COPD patients. NPJ Prim Care Respir Med 32, 25 (2022).
  10. Carmichael, H., Asch, S. M. & Bendavid, E. Clostridium difficile and other adverse events from overprescribed antibiotics for acute upper respiratory infection. Journal of Internal Medicine 293, 470–480 (2023).
  11. Study finds excess harm from commonly overprescribed antibiotics for patients resulting in widespread side effects. ScienceDaily https://www.sciencedaily.com/releases/2023/03/230330172137.htm.

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