esanum: Herzlichen Glückwunsch zum Wissenschaftspreis für Digitale Medizin in der Pneumologie! Wofür genau haben Sie diesen erhalten?
Dr. Glöckl: Der Preis würdigte zwei Studien, die wir mit der KAIA-COPD-App durchgeführt haben. Diese App bildet digital pneumologische Rehabilitationsinhalte ab. Sie beinhaltet ein spezifisches Trainingsprogramm für COPD-Patienten zur Kräftigung, Mobilität und Beweglichkeit, ein Schulungselement zu umfassendem COPD-Management sowie Atem- und Entspannungsübungen. Angesichts der Versorgungslücke in Deutschland, mit zu wenigen Reha-Verordnungen und kaum ambulanter Reha, bietet die App eine zukünftige Möglichkeit digitaler Versorgung. KAIA-COPD ist eine erste App dieser Art, deren Wirksamkeit wir wissenschaftlich untersucht haben.
In der ersten Studie untersuchten wir die App als Reha-Nachsorge. 60 COPD-Patienten in Deutschland und der Schweiz nahmen an einer randomisiert-kontrollierten Studie teil. Die Hälfte erhielt die App nach Beendigung der Reha, die andere nicht, und wir begleiteten sie über sechs Monate. Es zeigte sich, dass die Patienten mit App ihre Reha-Effekte über das halbe Jahr signifikant erhalten konnten. Die Kontrollgruppe zeigte nach sechs Monaten einen Abbau von Lebensqualität und körperlicher Aktivität. Dieses positive Ergebnis führte zur Frage nach der Wirksamkeit der App bei Verordnung aus stabilem Setting, etwa Arztpraxen oder Unikliniken. In einer zweiten, multizentrischen Studie mit 18 Zentren und 278 COPD-Patienten waren nach drei Monaten die primären Endpunkte der CAT-Fragebogen zur Lebensqualität/Symptomlast und die körperliche Leistungsfähigkeit (1-Minuten-Sit-to-Stand-Test). Hier steigerten sich Patienten in stabiler Phase mit App signifikant in Lebensqualität und Leistungsfähigkeit. Allerdings verbesserte sich auch die Kontrollgruppe, da diese – auf Auflage der Ethikkommission – eine analoge Intervention (Broschüren mit App-Inhalten und 14-tägige Anrufe zur Motivierung) erhielt. Dies führte zu keinem signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen.
Das Problem ist, dass diese aus ethischen Gründen angeordnete analoge Intervention keinen realen Versorgungsalltag abbildet und aufgrund der Versorgungslage nicht leistbar ist. Das Studien-Setting war daher künstlich. Die KAIA-COPD-App war vorläufig als DiGA gelistet, wurde aber vom BfArM aufgrund fehlender Überlegenheit gegenüber der Kontrollgruppe wieder gestrichen.
esanum: Aber diese Art der Versorgung mit regelmäßigen Anrufen und Aktivierung existiert ja gar nicht.
Dr. Gloeckl: Genau das ist das Problem und der Nachteil, den wir nun nicht mehr ändern können. Das BfArM argumentiert hier sehr strikt: ist der primäre Endpunkt nicht signifikant, erfolgt keine Listung.
esanum: Das klingt seltsam. Sie haben den Preis also mit gemischten Gefühlen entgegengenommen?
Dr. Gloeckl: Absolut. Ich habe die App nicht entwickelt, sondern arbeite in einer Klinik. Wissenschaftlich war es eine positive, in Thorax veröffentlichte Studie. Klinisch gesehen, für die Versorgung, war es bedauerlich. Ich finde den Ansatz aber nach wie vor sehr gut, modern und angemessen. Wir werden solche digitalen Versorgungsformen brauchen. Aktuell gibt es rund 70 DiGAs, knapp die Hälfte im psychosomatischen Bereich und keine einzige in der Pneumologie.
esanum: Sie meinen, die Realität wird sich durchsetzen?
Dr. Gloeckl: Definitiv wird es in den nächsten Jahren solche Angebote geben und sie werden benötigt. Nur zwei bis sechzehn Prozent der COPD-Patienten erhalten eine Reha-Verordnung, der Bedarf ist hoch. Gerade weniger schwer erkrankte Patienten könnten von einer individualisierten, potenziell KI-basierten digitalen Anwendung profitieren. Die positiven Effekte sahen wir in beiden Studien, das Problem war eben nur die Kontrollgruppe.
esanum: Die App ist KI-basiert und individualisiert, sagten Sie. Wie genau funktioniert sie für den Patienten?
Dr. Gloeckl: Kernstück ist das Trainingsprogramm mit an COPD-Patienten angepassten Videos. Am Ende jeder Einheit wird die empfundene Anstrengung erfragt. Bei "sehr leicht" werden die nächsten Übungen automatisch schwieriger oder umfangreicher. Bei "sehr schwer" entsprechend leichter. Dieses Prinzip der Progression ist für langfristige Verbesserung essenziell, ebenso die Anpassung an schlechtere Phasen.
esanum: Welche Trainingseinheiten sind das?
Dr. Gloeckl: Kräftigungsübungen, primär für die unteren Extremitäten, aber auch Arme, Mobilisierung, Dehnlagerungen und Koordinationsübungen – ein breites Spektrum, das COPD-Patienten benötigen und das sie auch in der Reha durchführen. Alles ohne aufwändiges Equipment, maximal genügt ein Theraband.
esanum: Was bietet die App noch?
Dr. Gloeckl: Ein modulares Schulungselement zu verschiedenen COPD-Management-Themen, aufgebaut wie eine Chat-Funktion, die sich nach den Bedürfnissen des Patienten richtet (z.B. bei Husten werden Hustentechniken erklärt). Die dritte Säule sind Audio-basierte Atem- und Entspannungsübungen.
esanum: Wenn die App zur Anwendung käme, würde der Arzt sie in der Praxis erklären?
Dr. Gloeckl: Sie war eineinhalb Jahre als vorläufige DiGA gelistet. Im normalen DiGA-Verfahren erhält der Patient mit Diagnosenachweis direkt einen Code von der Krankenkasse zur Freischaltung, ohne zwingende ärztliche Einweisung. Die App ist mit einem intuitiven Tutorial selbsterklärend. Die durchschnittlich 60-70-jährigen COPD-Patienten hatten damit technisch weniger Probleme als mit E-Mail-Links. Der Vorteil ist die Ressourcenersparnis durch entfallende Einweisungen.
esanum: Das ist ja eigentlich ein Ziel: ein effektiveres, optimaleres Gesundheitswesen mit sorgfältigem Umgang mit Personalressourcen. Dabei würde diese App stark helfen.
Dr. Gloeckl: Definitiv. Ein weiterer Aspekt ist der Bewegungscoach, der über die Smartphone-Kamera mit KI die Bewegung trackt und in Echtzeit Feedback gibt. Bei falscher Ausführung, z.B. krummem Rücken, stoppt die App, gibt Korrekturhinweise mit Video und setzt die Übung fort. Ein supervidiertes Training im häuslichen Umfeld, das extrem gut funktioniert.
Dr. Rainer Glöckl ist Diplom-Sportwissenschaftler und leitet das Forschungsinstitut Pneumologische Rehabilitation an der Schön Klinik Berchtesgadener Land. Zudem ist er als Dozent am Zentrum für Prävention und Sportmedizin der Technischen Universität München tätig.