Das Unternehmen Roche hat Mitte Januar von der EU-Kommission die Zulassung für Ocrelizumab (Ocrevus®) zur Therapie bei schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS) und bei primär progredienter Multipler Sklerose (PPMS) im Frühstadium erhalten. Ausschlaggebend für die Entscheidung waren die Daten der im New England Journal of Medicine publizierten Phase-III-Studien OPERA I, OPERA II und ORATORIO.
In Deutschland leben mehr als 200.000 Menschen mit Multipler Sklerose (MS), wobei jährlich etwa 2.500 Neuerkrankungen hinzukommen. Man unterscheidet drei Verlaufsformen: die schubförmig remittierende MS (RRMS), die sekundär progrediente MS (SPMS) und die primär progrediente MS (PPMS). Zu Krankheitsbeginn überwiegt der schubförmige Verlaufstyp mit einer Häufigkeit von etwa 85%. Nach 10-15 Jahren gehen ca. 40-50% in einen sekundär chronisch progredienten Verlauf über und nach über 20 Jahren beträgt die Häufigkeit dieser Verlaufsform sogar bis zu 90%. Nur etwa 10-15% der Patienten haben von Beginn an die seltene und schwerwiegende Form PPMS. Durch die EU-Zulassung von Ocrevus® steht diesen Betroffenen nun erstmals eine wirksame Therapieoption zur Verfügung.
Ocrelizumab (eine Variante des Krebs- und Rheumamedikaments Rituximab) ist ein vollständig humanisierter monoklonaler Antikörper, der gezielt CD20-positive B-Zellen zerstört. Derzeit geht man davon aus, dass diese B-Zellen maßgeblich an der Schädigung der Myelinscheide und der Axone bei MS beteiligt sind. Ocrelizumab wird alle sechs Monate als einzelne Infusion von 600 mg verabreicht. Die Initialdosis wird in zwei 300 mg-Infusionen im Abstand von zwei Wochen gegeben.
Es wurden zwei identische Studien (OPERA I und II) durchgeführt, an denen insgesamt 1.656 Patienten mit schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS) teilnahmen. Bei den Teilnehmern, die alle sechs Monate Ocrelizumab bekommen haben, traten etwa 50% weniger Schübe auf als bei den Teilnehmern, die 44 µg Interferon beta-1a dreimal wöchentlich erhalten haben. Außerdem zeigte sich, dass das Risiko für eine über 12 bzw. 24 Wochen bestätigte Behinderungsprogression (bestätigte Verschlechterung des neurologischen Befundes) in beiden Studien zu beiden Zeitpunkten mit Ocrelizumab um 40% geringer war als mit Interferon beta-1a. Auch die Anzahl neuer MRT-Läsionen war signifikant niedriger in den mit Ocrelizumab behandelten Gruppen.
In der Phase-III-Studie ORATORIO untersuchten die Wissenschaftler die Wirksamkeit von 600 mg Ocrelizumab alle sechs Monate gegenüber Placebo bei 732 Patienten mit PPMS. Insgesamt verringerte sich das Risiko für eine bestätigte Behinderungsprogression um etwa 25% bei den mit Ocrelizumab behandelten Teilnehmern. Im 25-Fuß-Gehtest zeigte sich nach 120 Wochen bei den Placebo-Teilnehmern eine Verschlechterung der Leistung um 55%, während es unter Ocrelizumab nur 39% waren. Die MRT-Läsionen verringerten sich unter Ocrelizumab, während sie unter Placebo-Behandlung zunahmen. Des Weiteren wiesen die Ocrelizumab-Patienten im Gegensatz zu den Placebo-Patienten im Beobachtungszeitraum auch eine geringere Abnahme des Hirnvolumens auf.
Durch die selektive Immunsuppression, hier in Form einer B-Zell-Depletion, kann das Risiko von Infektionen und von Tumoren erhöht sein. Trotz eines insgesamt guten Sicherheitsprofils wiesen die Phase-III-Studien eine leicht erhöhte Rate an Herpesvirus-Reaktivierungen und in der ORATORIO-Studie eine minimal erhöhte Zahl an Tumoren auf. Eine langfristige Beobachtung ist hier sinnvoll. Generell sollte man vor der Therapie mit Ocrelizumab chronische Infektionen wie Hepatitis, HIV oder Tuberkulose ausschließen.
Die in der ORATORIO-Studie untersuchte PPMS-Patientengruppe war mit durchschnittlich 45 Jahren relativ jung, hatte eine kurze Erkrankungsdauer und eine hohe kernspintomographisch erfasste Erkrankungsaktivität. Aufgrund der Studienergebnisse beschränkt sich die Zulassung daher derzeitig auch lediglich auf die Frühform der PPMS und auf die RRMS. Für Patienten mit sekundär-progredienter MS wurden bisher keine Studien mit Ocrelizumab oder anderen Medikamenten zur B-Zell Depletion durchgeführt.
Es bleibt abzuwarten, ob Ergänzungsstudien folgen und zukünftig vielleicht auch Patienten mit anderen Verlaufsformen der MS von diesem Medikament profitieren können.
Referenzen:
1. Hauser S.L., Bar-Or A., Comi G., Giovannoni G. et al. Ocrelizumab versus Interferon Beta-1a in Relapsing Multiple Sclerosis. N Engl J Med. 2017 Jan 19; 376(3):221-234. doi: 10.1056/NEJMoa1601277. Epub 2016 Dec 21.
2. Montalban X., Hauser, S. L., Kappos L. et al. Ocrelizumab versus Placebo in Primary Progressive Multiple Sclerosis. N Engl J Med. 2017 Jan 19; 376(3):209-220. doi: 10.1056/NEJMoa1606468. Epub 2016 Dec 21.
3. Stellungnahme (Medizin/Therapie Nr. 3/2017) des Vorstandes des Ärztlichen Beirates der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), Bundesverband e.V. (7. Feb. 2017)
4. www.dmsg.de
5. www.ema.europa.eu/Find medicine/Human medicines/European public assessment reports