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Wissenschaftler beschreiben neurophysiologisches Korrelat von Pessimismus

Patienten mit Ängsten, Depressionen oder Zwangsstörungen neigen bei schwierigen Entscheidungen dazu, den möglichen negativen Konsequenzen mehr Gewicht zu geben als den positiven.

Stimulation des Nucleus caudatus löst Überbewertung negativer Aspekte aus

Patienten mit Ängsten, Depressionen oder Zwangsstörungen neigen bei schwierigen Entscheidungen dazu, den möglichen negativen Konsequenzen mehr Gewicht zu geben als den positiven, was zu irrationalen Entscheidungen oder gar Handlungsunfähigkeit führen kann. Was dabei im Gehirn passiert, lesen Sie im heutigen Beitrag.

Eine negative Lebenseinstellung ist ein Zustand, der die Urteilsfähigkeit trübt und somit jede Entscheidung ebenfalls negativ beeinflusst. Besonders zum Tragen kommt dies bei sog. Annäherungs-Vermeidungs-Konflikten. Gemeint sind Konstellationen, in denen ein gewünschtes Ziel (Annäherung) auch unangenehme Konsequenzen (Vermeidung) mit sich bringen kann, sodass ein innerer Zwiespalt entsteht, der normalerweise durch Abwägung der Vor- und Nachteile gelöst wird.1 Auch Umweltfaktoren spielen dabei eine Rolle: unter großem Stress neigen die meisten Tiere zur Wahl von Optionen mit hohem Risiko, die sich dafür besonders auszahlen.

Fokussierung auf negative Gedanken beeinflusst unsere Entscheidungsprozesse

Amerikanische Neurowissenschaftler machten kürzlich eine interessante Entdeckung, die sie Mitte August in der Zeitschrift Neuron veröffentlichten.2,3
Sie stellten ihre Versuchstiere vor einen ebensolchen Ambivalenz-Konflikt, wobei die Belohnung in einem Saft bestand und der unangenehme Stimulus in einem Luftstoß ins Gesicht. In jeder Versuchsreihe wurde das Verhältnis zwischen Belohnung und aversivem Reiz variiert und die Tiere konnten entscheiden, dies für die Belohnung zu akzeptieren oder sich nicht mehr anzunähern. War die Belohnung hoch genug, machte dies den unangenehmen Luftstoß wieder wett.

Im zweiten Schritt wurden die Versuche wiederholt, allerdings nach Mikrostimulation des Nucleus caudatus (NC). Dieses große paarige Kerngebiet der Basalganglien weist Verknüpfungen zum limbischen System auf, welches für Emotionen und Stimmung eine wichtige Rolle spielt. Außerdem beschrieben MRT-Studien Verbindungen des NC zu zwei Gebieten des medialen präfrontalen Kortex, die bei Patienten mit Ängsten oder Depressionen eine abnormale Aktivität zeigen. 

Stimulation des Nucleus caudatus führt zu Fehleinschätzungen des Kosten-Nutzen-Verhältnisses

Die Forscher stellten fest, dass die Kosten-Nutzen-Abwägung nach Stimulation des NC in ein Ungleichgewicht geriet. Die Tiere lehnten nun die Belohnung, die sie zuvor noch haben wollten, immer früher ab – Verhältnisse von aversivem Reiz zu Belohnung, die sie ohne Stimulation akzeptiert hatten, vermieden sie nun. Nach Stimulation hielt dieser Effekt bis zum Folgetag an und bildete sich anschließend langsam zurück.

Die Stimulation bewirkte scheinbar, dass die Tiere der Kehrseite plötzlich mehr Gewicht gaben als dem möglichen Lohn. Die irrationalen Entscheidungen gingen auch mit Veränderungen der Hirnwellentätigkeit im Betaband-Bereich einher.

Ausblick

Dies soll das Problem natürlich nicht auf eine mechanistische oder neuroanatomische Ebene reduzieren, aber es fügt eine wichtige Dimension zum Verständnis hinzu. 
Vielen Menschen gelingt es nicht, irrationale oder dysfunktionale Gedanken als solche zu erkennen und loszulassen. Patienten mit Zwangsstörungen verfolgen bspw. rituelle Verhaltensweisen, um den vermeintlichen negativen Stimulus zu vermeiden oder Patienten mit Depression konzentrieren sich eher auf die negativen Aspekte einer Situation.

Die Forscher erhoffen sich, die Entwicklung einer möglichen Therapie auf Grundlage dieser und weiterer Arbeiten aufbauen zu können. Doch gleichzeitig wird auch deutlich, wie empfindlich das Gleichgewicht dieser komplex verschalteten Signalwege ist. 
So sendet der NC auch Informationen zu Dopamin-produzierenden Regionen und Kerngebieten, die an der Steuerung der Willkürmotorik beteiligt sind. Im Rahmen eines Morbus Parkinson etwa, der durch Dopaminmangel charakterisiert ist, erhält auch der NC falschen oder lückenhaften Input und kann seinerseits seine Funktion nicht mehr korrekt erfüllen, was zur Entstehung der typischen Symptome beiträgt.
Koautorin Prof. Ann Graybiel sieht diese Problematik ebenfalls in der Studie bestätigt: "Offensichtlich sind wir so empfindlich ausbalanciert, dass geringste Störungen des Systems unser Verhalten rapide ändern können." 

Referenzen:

1.    Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt. Available at: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/annaeherungs-vermeidungs-konflikt/1012. (Accessed: 17th August 2018)
2.    Amemori, K.-I., Amemori, S., Gibson, D. J. & Graybiel, A. M. Striatal Microstimulation Induces Persistent and Repetitive Negative Decision-Making Predicted by Striatal Beta-Band Oscillation. Neuron (2018). doi:10.1016/j.neuron.2018.07.022
3.    Neuroscientists get at the roots of pessimism: Stimulating the brain’s caudate nucleus generates a negative outlook that clouds decision-making. ScienceDaily Available at: https://www.sciencedaily.com/releases/2018/08/180809112545.htm. (Accessed: 16th August 2018)