Eine aktuell im 'Lancet Neurology' erschienene Arbeit deutet darauf hin, dass wir das Apoplex-Risiko bei mittelgradiger asymptomatischer Carotisstenose möglicherweise über- und das bei höhergradiger asymptomatischer Stenose eher unterschätzen.1,2
Die Prävalenz einer 50%igen Carotisstenose liegt bei Erwachsenen bei ca. 4%, ab dem 65. Lebensjahr steigt diese auf 6–15% an. Das bedeutet, dass in Deutschland ca. 1 Mio. PatientInnen mit einer ≥50 %igen Carotisstenose leben.
In Deutschland werden ca. 15% aller zerebralen Ischämien durch ≥50%ige Stenosen oder Verschlüsse der extrakraniellen A. carotis verursacht.3 Auf die Emboliegefahr nehmen außerdem das Alter, das Geschlecht (häufiger Männer), Nikotinabusus, die Morphologie der Stenose (z. B. instabile Plaques) und das allgemeine arteriosklerotische Profil des Patienten Einfluss.4
"Randomisierte kontrollierte Studien bei Patienten mit asymptomatischer Carotisstenose haben eine geringe Reduktion des Schlaganfallrisikos nach Endarteriektomie im Vergleich zur alleinigen medikamentösen Therapie gezeigt, aber es besteht Unsicherheit darüber, welche Patienten einem chirurgischen Eingriff erhalten sollten und die klinische Vorgehensweise ist weltweit sehr unterschiedlich", schreiben die AutorInnen der Universität Oxford in einer aktuellen Publikation im Lancet Neurology.2
Sie führten daher eine prospektive, populationsbasierte Kohortenstudie (Oxford Vascular Study; OxVasc) sowie zusätzlich ein systematisches Review und eine Meta-Analyse aller veröffentlichten Studien (von 1980 bis 2020) durch, die über das ipsilaterale Schlaganfallrisiko bei PatientInnen mit asymptomatischer Carotisstenose berichteten. Bis dato gab es hierzu keine systematische Analyse aus Kohortenstudien.
Von den 2.178 PatientInnen aus der 'OxVasc'-Studie, die sich einer Carotis-Bildgebung unterzogen, bestand bei 207 eine 50–99%ige asymptomatische Stenose an mindestens einer Carotis-Bifurkation. Die Untersuchenden initiierten bei diesen ProbandInnen eine medikamentöse Standardtherapie (bei Bildgebung im Mittel 77,5 Jahre alt, 43% Frauen).
Das 5-Jahres-Risiko für einen ipsilateralen Schlaganfall stieg mit dem Grad der Stenose: PatientInnen mit einer ≥70%igen Stenose hatten ein signifikant höheres 5-Jahres-Risiko als PatientInnen mit einer 50–69%igen Stenose (6 von 53 PatientInnen vs. 0 von 154; p < 0,0001).
Für PatientInnen mit einer ≥80%igen Stenose lag das 5-Jahres-Risiko signifikant höher als für solche mit einer 50–79%igen Stenose (5 von 34 PatientInnen vs. 1 von 173; p < 0,0001).
In der begleitenden systematischen Übersichtsarbeit und Metaanalyse von Kohortenstudien sowie Interventionsgruppen randomisierter kontrollierter Studien (8.419 PatientInnen) zeigte sich, dass das Schlaganfallrisiko stark vom Grad der Stenose abhängt.
Stenosen ≥70% gingen mit einer etwa zweifachen, Stenosen ≥80% mit einer zweieinhalbfachen Risikoerhöhung (gegenüber Stenosen von 50–69 respektive 50–79%) einher.
In Zusammenschau der Ergebnisse beziffern die Untersucher das Apoplex-Risiko nach 5 Jahren unter heutiger medikamentöser Therapie bei PatientInnen mit mittelgradiger Stenose auf weniger als 5%, bei PatientInnen mit höhergradiger Stenose jedoch auf etwa 15%.
Die AutorInnen merken an, dass die Daten zum Apoplexrisiko für PatientInnen mit schwerer versus mittlerer Stenose in früheren Studien sehr uneinheitlich ausfielen, was durch erhebliche Divergenzen in den Ergebnissen randomisierter kontrollierter Studien zur Endarteriektomie im Vergleich zu Kohortenstudien zu erklären ist.
Sie führen weiter aus: "Obwohl randomisierte kontrollierte Studien der Goldstandard für die Quantifizierung der Effekte einer Intervention sind, sind sie dennoch anfällig für Verzerrungen (Selektionsbias) bei der Untersuchung von Risikoassoziationen innerhalb von Behandlungsgruppen."
"Im Gegensatz zu den Annahmen aktueller Leitlinien und den Ergebnissen von Subgruppenanalysen früherer randomisierter kontrollierter Studien war das in Kohortenstudien berichtete Schlaganfallrisiko stark vom Grad der asymptomatischen Carotisstenose abhängig, was darauf hindeutet, dass der Nutzen der Endarteriektomie bei Patienten mit schwerer Stenose möglicherweise unterschätzt wird", schließen die AutorInnen.
Sie betonen ebenfalls, dass das 5‑Jahres-Schlaganfallrisiko bei PatientInnen mit mittelgradiger Stenose unter herkömmlicher medizinischer Behandlung hingegen gering ist, was einen Nutzen der Revaskularisation in dieser Population in Frage stellt.
Referenzen:
1. Nicholas Morris. Seems we both overestimate the stroke risk from moderate asymptomatic carotid stenosis and underestimate the stroke risk from severe asymptomatic stenosis. -> a population-based cohort study, systematic review, and meta-analysis https://t.co/DXnrznoUj7. @namorrismd https://twitter.com/namorrismd/status/1369325423562219525 (2021).
2. Howard, D. P. J., Gaziano, L. & Rothwell, P. M. Risk of stroke in relation to degree of asymptomatic carotid stenosis: a population-based cohort study, systematic review, and meta-analysis. The Lancet Neurology 20, 193–202 (2021).
3. S3-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der extracraniellen Carotisstenose. Kurzfassung. 2. Auflage 03. Februar 2020, AWMF-Registernummer: 004-028. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/004-028k_extracranielle-Carotisstenose-Diagnostik-Therapie-Nachsorge_2020-02_1.pdf.
4. Braunwarth, D. A. Asymptomatische Carotisstenose verlangt mehr Zurückhaltung. Medical Tribune https://www.medical-tribune.de/medizin-und-forschung/artikel/asymptomatische-carotisstenose-verlangt-mehr-zurueckhaltung/ (2019).