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Medikamentöse Therapien animieren zu ungesundem Lebensstil

Die primärpräventive Verschreibung eines Medikaments führt bei vielen Patientinnen und Patienten zu nachlässigem Verhalten in Bezug auf ihren Lebensstil. Dadurch kann die Wirkung des verordneten Medikaments wieder zunichte gemacht werden.

Die Verordnung von Blutdrucksenkern und Statinen macht Patientinnen und Patienten zu "Couch-Potatoes"

Die primärpräventive Verschreibung eines Medikaments führt bei vielen Patienten zu nachlässigem Verhalten in Bezug auf ihren Lebensstil. Statt sich weiter gesund zu ernähren, viel zu bewegen und Gewicht zu verlieren, reduzieren viele Patienten ihre körperliche Aktivität und legen an Gewicht zu. Dadurch kann die Wirkung des verordneten Medikaments wieder zunichte gemacht werden.

In der Primärprävention von Herz-Kreislauf-Krankheiten steht die konservative Therapie an erster Stelle. Konkret bedeutet das: gesunde Ernährung, Sport, Gewichtsverlust, Rauchstopp und weniger Alkohol. Nicht selten ist zusätzlich die Verschreibung eines Medikaments notwendig, um das kardiovaskuläre Risiko in den Griff zu bekommen. Seit längerem gibt es aber Hinweise darauf, dass PatientInnen ihren Lebensstil vernachlässigen, sobald sie eine Pille schlucken, ganz frei nach dem Motto: "Ich kann mich zurücklehnen, das Medikament wird es schon richten". EpidemiologInnen aus Finnland haben nun die Daten einer großangelegten finnischen Langzeit-Gesundheitsstudie („Finnish Public Sector Study“) ausgewertet, um dieser Vermutung auf den Grund zu gehen.

Daten aus 13-jähriger finnischer Bevölkerungsstudie

Die Forschenden konnten auf Daten von über 40.000 Arbeitnehmenden (Durchschnittsalter: 52 Jahre, 84% weiblich, 50% übergewichtig) aus dem öffentlichen Sektor in Finnland zurückgreifen. Keine der Testpersonen litt bei Einschluss an einer kardiovaskulären Erkrankung. Im Rahmen der Studie, die von 2000 bis 2013 lief, wurden die Teilnehmenden einmal zu Beginn und dann erneut nach rund 4 Jahren zu ihren Lebensgewohnheiten, dem aktuellen Körpergewicht, körperlicher Aktivität, sowie Tabak- und Alkoholkonsum befragt. Die Forschenden konnten mithilfe einer Datenbank der nationalen finnischen Krankenversicherung herausfinden, welche Teilnehmenden im Verlauf der Studie mit der Einnahme eines Antihypertonikums oder Statins begonnen haben. Darauf basierend teilten sie die Testpersonen in drei Gruppen ein: Personen, denen im Beobachtungszeitraum ein solches Medikament neu verordnet wurde (11%), Personen, die im Verlauf kein Medikament erhielten (56%), und Personen, die bereits zu Beginn der Studie einen Blutdruck- oder Lipidsenker einnahmen (33%). Die Forschenden untersuchten dann, wie sich die Verschreibung eines solchen Medikaments auf die Lebensgewohnheiten der StudienteilnehmerInnen auswirkte.

Verordnung eines Medikaments führt zu weniger Bewegung und mehr Übergewicht

Nach rund 4 Jahren zeigte sich, dass die Personen, denen ein Medikament zur Senkung des Blutdrucks oder gegen zu hohe Lipidwerte neu verordnet wurde, inaktiver wurden (–0,09 metabolischen Äquivalente in Stunden/Tag [METs]) und stärker an Gewicht zunahmen (BMI: +0,19 kg/m2) als jene, die kein Medikament erhielten. Von der Gewichtszunahme schienen besonders Personen betroffen, die zuvor normalgewichtig waren. Sie hatten nach Verschreibung eines Medikaments eine fast doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit (+82%), an Gewicht zuzulegen. Bei Personen, die am Anfang schon adipös waren, lag das Risiko immerhin noch bei 37%. StudienteilnehmerInnen, die zu Beginn der Untersuchung körperlich inaktiv waren, wurden durch die Verordnung eines Medikaments mit einer 16%igen Wahrscheinlichkeit noch inaktiver. Bei Personen, die sich schon zu Studienbeginn viel bewegten, war das Risiko für Inaktivität nur halb so groß (+8 %).

Reduzierter Zigaretten- und Alkoholkonsum nach Verschreibung eines Medikaments

Die Forschenden haben auch erfasst, wie sich die Verschreibung eines Blutdruck- oder Lipidsenkers auf den Zigaretten- und Alkoholkonsum der Testpersonen auswirkt. Hier war eine positive Entwicklung zu beobachten. So reduzierten Personen, die ein neues Medikament erhielten, im Vergleich zu unbehandelten Personen ihren Tabakkonsum um durchschnittlich 0,34 Zigaretten pro Tag. Die Wahrscheinlichkeit, komplett mit dem Rauchen aufzuhören, lag bei 26%. Die Verschreibung eines Blutdruck- oder Lipidsenkers sorgte auch für eine Reduktion des Alkoholkonsums um rund 1,9 Gramm Alkohol pro Woche.

Das Forschungsteam verglich auch, wie Personen ihren Lebensstil veränderten, die schon zu Beginn der Studie Medikamente eingenommen hatten. Im Vergleich zu unbehandelten Personen neigte auch diese Patientengruppe eher zu körperlicher Inaktivität (–0,08 METs) und Gewichtszunahme (BMI: +0,08 kg/m2). Die Wahrscheinlichkeit für Übergewicht war ähnlich hoch wie bei jenen Personen, die erstmals ein Medikament erhielten (81%).

Gesunder Lebensstil ist wichtiger Bestandteil jeder medikamentösen Therapie

Die Studie belegt damit, dass die Verschreibung eines blutdruck- oder lipidsenkenden Medikaments in der Primärprävention oft dazu verleitet, den Lebensstil schleifen zu lassen. Anders ausgedrückt: Viele PatientInnen sind der Meinung, dass sie nicht mehr so gesund leben müssten (weniger Sport, schlechtere Ernährung), da sie jetzt ja ein neues Medikament einnehmen, welches sie vor Erkrankungen schützt. Durch diese Nachlässigkeit bewirken die PatientInnen aber genau das Gegenteil: Sie nehmen an Gewicht zu und machen die positiven Effekte der medikamentösen Therapie wieder zunichte. Daher ist es wichtig, alle PatientInnen schon bei Verschreibung eines Medikaments ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass ein gesunder Lebensstil weiterhin Teil der Therapie bleiben muss, um ein optimales Ergebnis zu erzielen.

Interessanterweise konnten die Forschenden auch zeigen, dass der Zigaretten- und Alkoholkonsum nach Verschreibung eines Antihypertonikums bzw. Statins zurückging. Wahrscheinlich wurden die PatientInnen von ärztlicher Seite hier gut informiert. Die Verordnung eines Medikaments muss also nicht immer mit einer Vernachlässigung des Lebensstils einhergehen. Wahrscheinlich kommt es darauf an, wie viel Priorität ÄrztInnen den einzelnen Lebensstilfaktoren im Patientengespräch einräumen. Die Studie zeigt, dass es wichtig ist, den PatientInnen zu Beginn der Therapie und auch im Verlauf immer wieder zu motivieren, mehr Sport zu treiben und die Ernährung umzustellen, um so Gewicht zu verlieren und das kardiovaskuläre Risiko zu senken.

Leider wurden die Ernährungsgewohnheiten in dieser Studie nicht erfasst. Somit ist nicht klar, ob nur die geringere Bewegung oder zusätzlich auch eine schlechtere Ernährung zur Gewichtszunahme beigetragen hat. Zudem wurden keine Blutdruck- und Lipidprofile erhoben. Es ist daher ungewiss, wie stark die Wirkung der Medikamente durch die Verschlechterung des Lebensstils wirklich beeinträchtigt wurde.

Quelle:
Korhonen M et al. Lifestyle Changes in Relation to Initiation of Antihypertensive and Lipid‐Lowering Medication: A Cohort Study. Journal of the American Heart Association. 2020;9:e014168. Originally published 5 Feb 2020