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Die Kunst, einen fokussierten Geist zu bewahren – auch im (Klinik-)Alltag

Die Konzentration steckt in einer echten Krise: Durchschnittliche Jugendliche verbringen nur noch 65 Sekunden mit jeder Aufgabe, durchschnittliche Büroangestellte lediglich drei Minuten.

Fokus-Killer kontrollieren, Zielstrebigkeit zurückgewinnen

Im ersten Teil dieses Beitrages hatten wir aufgezeigt, dass die Fähigkeit, sich kurz, aber dafür vollständig auf eine Sache konzentrieren zu können, unterm Strich mit besserem Vorankommen und schnelleren Erfolgen verknüpft ist als Multitasking. Anhand zahlreicher Daten hatten wir aufgezeigt, warum Multitasking die kognitive Funktion und Aufmerksamkeit fragmentiert und so die Produktivität und Energie erschöpft. Autoritäten aus der neurologischen Forschung warnen, dass wir auf eine „Aufmerksamkeitsdefizit-Rezession“ zusteuern.2

Multitasking tut noch etwas: es bringt die Prioritäten durcheinander. Oft suchen die Betroffenen den Fehler zu Unrecht bei sich und machen sich Selbstvorwürfe, warum sie zu wenig schaffen oder schnell ermüden. In vielen Arbeitsumfeldern ist dies jedoch systemimmanent.3

In vielen Arbeitsszenarien ist es nicht nur so, dass zu viel zu tun ist – vor allem verunmöglichen ständige Unterbrechungen, dass alle Aufgaben erledigt werden können. Im ersten Teil hatten wir auch gesehen, dass sich das Gehirn in Reaktion auf ein solches tägliches Umfeld selbst ändert, und nicht immer in einer Weise, die für uns günstig ist – zum Glück können wir uns diese Anpassungsfähigkeit, also die Neurogenese und Synaptogenese, auch umgekehrt zunutze machen, um negative Muster zu durchbrechen.

Die folgenden Gedanken werden natürlich nicht auf alle Arbeitsumfelder anwendbar sein. Nehmen Sie sie vielleicht einfach als Anregung und teilen Sie gern mit uns in den Kommentaren weitere Strategien, die Ihren Tag flüssiger und produktiver gemacht haben. 

Suchen Sie nach Möglichkeiten, den Workflow zu vereinfachen und ein Abreißen oder Umschwenken der Aufmerksamkeit ("context switching") zu minimieren. Nehmen wir an, Sie betreuen eine Station und können kaum ein Aufklärungsgespräch zu Ende führen oder einen Bericht diktieren, ohne zwischendurch auf mehreren Telefonen angerufen zu werden und da die Fragen häufig nur beantwortbar sind, wenn man PC und Patientenakte vor sich hat, muss man verlassen, was man gerade tut und nachlesen oder später darauf zurückkommen. Dies lässt sich zwar nicht immer, aber oft, reduzieren. Vielleicht können Sie mit Ihrem Pflegeteam eine feste Uhrzeit vereinbaren, zu der Sie täglich kurz von sich aus zu einem Treff in den Stützpunkt kommen, bei dem das Pflegeteam seine gesammelten Fragen im Paket loswerden kann, sodass Sie ansonsten nur wegen dringlicher Fragen angerufen werden. Analog dazu können ärztliche Bereichsleitungen täglich zu einer strategisch günstigen Zeit (wenn erfahrungsgemäß besonders viele Fragen auftreten, etwa nach den Aufnahmeuntersuchungen) einen kurzen Abstecher ins Assistentenzimmer einplanen, um verstreute, unterbrechende Rückfragen in den angrenzenden Stunden zu reduzieren. Die tägliche Regelmäßigkeit ist dabei wichtig, damit das Personal beruhigt weiß, dass es Fragen für diese Zeit zurückbehalten kann. Wenn Sie Nachtdienst haben, machen Sie das gleiche vorsorglich: schauen Sie spätabends, wenn Sie kurz Zeit finden, noch einmal, ob auf Station alles in Ordnung ist, und vermeiden Sie dadurch Anrufe zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem Sie gerade in der Notaufnahme stehen oder sich mal ein halbes Stündchen zurückgezogen haben. Manche von Ihnen werden das bereits machen, aber allgemein schwinden heute die Gelegenheiten für solche kurzen Koordinationen im kleinen Kreis. 

Arbeiten Sie im Home Office, wird oft empfohlen, eine fixe Tageszeit für das Beantworten nicht dringlicher E-Mails festzulegen (wenn Sie responsiver sein müssen, können es auch 2–3 feste Zeitfenster sein). Denn im Stress neigen viele dazu, sich mit leichtfallenden Aufgaben abzulenken und etwa jede eingehende Mail direkt zu beantworten, statt für einen Moment an einer kognitiv anspruchsvolleren Aufgabe dranzubleiben, solange man noch frisch ist. Machen Sie sich bewusst oder führen Sie ggf. sogar ein kleines Logbuch, was Ihre führenden Zeiträuber sind oder ob es Muster gibt, die Unterbrechungen oder Abschweifen der Konzentration triggern.

Seien Sie Ihr eigener Task-Manager

Die Eigenarten des menschlichen Gehirns bedingen die besondere Herausforderung, die digitale Endgeräte und das Internet repräsentieren. Wir werden nicht nur abgelenkt, sondern lenken uns genauso häufig selbst ab. Technische Features, wie Benachrichtigungen und unendliches Scrollen, sind darauf ausgelegt, die Vorliebe des Gehirns für unvorhersehbare Neuerungen zu aktivieren, was die Produktion des Botenstoffs Dopamin anregt und uns dazu bringt, immer wieder nach mehr zu suchen. Haben wir mehrere Dinge vor uns, wie z. B. mehrere Browser-Registerkarten, wollen wir sie alle anschauen.3

Unter diesem Blickwinkel sind viele Apps und soziale Medien keineswegs kostenlos – sie kosten uns unseren Fokus. Unsere digitalen Geräte sind leider so konzipiert, dass Sie uns unterbrechen, sei es mit Benachrichtigungen oder Symbolen und blinkenden LEDs für ungelesene Nachrichten und Beiträge. Verschiedene Studien zeigen, dass uns dies ständig in einen Strudel zieht, der kaum Lücken für unfragmentierte Gedankengänge lässt, geschweige denn, uns erlaubt, in einen Fluss zu kommen. In einer Erhebung an 50.000 Angestellten hielt die Mehrheit keine 6 Minuten durch, ohne eine E-Mail oder eine Sofortnachricht abzurufen, 35,5% schauten alle 3 Minuten oder weniger nach. Nur 18,6% schafften mehr als 20 Minuten, ohne in Kommunikation hineingezogen zu werden. Das stetige kurze Nachschauen macht aus unserer Konzentration einen Schweizer Käse, meint das Rescue Time-Blog, welches diese Daten ausgewertet hat.4

Selbst, wenn wir nicht darauf reagieren, lenkt eine eingehende Nachricht oder ein verpasster Anruf unsere Aufmerksamkeit stark ab, bestätigen Daten der Florida State University.3 Allein die Anwesenheit des Telefons im selben Raum reduziert die verfügbaren kognitiven Ressourcen, selbst wenn wir nicht darauf schauen. Dies beschreibt eine Studie im University of Chicago Press Journal als "brain drain"- oder Gehirnerschöpfungshypothese.5 Dropbox spricht von einer "Komplexitätsexplosion": "Jedes Tool oder jeder Dienst, den wir hinzufügen, schafft ein neues Netzwerk von Beteiligten und Notifications, das neue Komplexitäten und Abhängigkeiten mit sich bringt."3 

Nicholas Carr, Finalist des Pulitzer Preises 2011, diskutiert in seinem Buch "The Shallows: What the Internet Is Doing to Our Brains", dass wir, während wir die Vorzüge des Internets genießen, einen Teil unserer Konzentration und Verarbeitungsfähigkeiten opfern. Der Grund ist abermals: Neuroplastizität! Das Gehirn stellt sich auf das ein, was ihm ständig begegnet, was auf technologische Innovationen bezogen bedeutet, dass wir bestimmte Fähigkeiten erwerben oder verlieren. 

Abschließende Gedanken

Unter zerstreuter Aufmerksamkeit fällt es schwer, fragmentierte Informationen in kohärente, sinnvolle Aufgabenstrukturen zu integrieren. Eine hilfreiche Strategie, um in diese Unübersichtlichkeit wieder Unterschiedenheit zu bringen, besteht in der Zerlegung von Aufgaben in Teilaufgaben.3 Auch das Gruppieren von gleichartigen Aufgaben, um diese nacheinander zu erledigen, fällt in diese Kategorie.

Tricksen Sie Ihr Gehirn aus und arbeiten Sie so, dass Sie sich selbst ermutigen: Wenn möglich, bearbeiten Sie kürzere und unkomplizierte Aufgaben zuerst, so kommen Sie schnell voran und können schon relativ früh am Tag mehrere Punkte von Ihrer To do-Liste streichen und haben anschließend den Kopf für ein oder zwei größere Aufgaben frei.

Manche schwören auch auf die Pomodoro-Methode: Geben Sie einzelnen, klar definierten Aufgaben jeweils einen "Termin", also eine vorher festgelegte Zeiteinheit von bspw. 25 Minuten und planen Sie anschließend 5 Minuten absichtliche Unterbrechung/ Pause. Nach vier solchen Stunden machen Sie eine größere Pause von etwa 30 Minuten.3 Wenn bereits die Arbeit am Bildschirm stattfindet, profitieren Sie besonders davon, die Pausen technikfrei zu halten, dies steigert die Wachheit und verringert emotionale Erschöpfung. Die Kürze der Blöcke ist auch dafür förderlich, auf zuweilen unvermeidliche Unterbrechungen oder kurzfristige Aufgaben reagieren zu können. Wenn möglich, gehen Sie spontan dazwischen kommenden Aufgaben nicht prompt nach, sondern nehmen Sie sie auf die To do-Liste und kommen Sie bei nächster Gelegenheit auf sie zurück, beenden Sie zuerst den Rest Ihres planmäßigen Zeitfensters, sodass einzelne Anfragen Ihnen nicht die gesamte Zeitblockung durcheinander bringen.3 Wenn Sie eine Praxis oder ein Team leiten, können Sie durch die Schaffung oder Befürwortung von entsprechenden asynchroneren Kommunikationsnormen die Konzentration erleichtern und Unterbrechungen einschränken.

Ein letzter aktueller Gedanke: Man kann sich nicht wirklich konzentrieren, wenn man über etwas Wichtiges in Sorge ist. Krisenzeiten haben viele von uns in einen Zustand versetzt, der als "Hypervigilanz" bezeichnet wird und der unsere Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt, weil das Gehirn permanent nach Anzeichen für Gefahr um uns herum sucht, erklärte auch Surgeon General Kaliforniens, Dr. Nadine Harris, in Bezug auf die Coronakrise.1 Niemand sollte sich also schlecht fühlen, dass er bei dem aktuellen Weltgeschehen Schwierigkeiten hat, seinen Fokus zu halten.
 

Quellen:
  1. Hari, J. Stolen Focus: Why You Can’t Pay Attention—and How to Think Deeply Again. Next Big Idea Club https://nextbigideaclub.com/magazine/stolen-focus-cant-pay-attention-think-deeply-bookbite/32067/.
  2. The Myth of Multitasking. The New Atlantis https://www.thenewatlantis.com/publications/the-myth-of-multitasking.
  3. The productivity tax you pay for context switching. The Async Newsletter https://async.twist.com/context-switching/ (2022).
  4. MacKay, J. Communication Overload: Most workers can’t go 6 minutes without checking email. RescueTime Blog https://blog.rescuetime.com/communication-multitasking-switches/ (2018).
  5. Ward, A. F., Duke, K., Gneezy, A. & Bos, M. W. Brain Drain: The Mere Presence of One’s Own Smartphone Reduces Available Cognitive Capacity. Journal of the Association for Consumer Research 2, 140–154 (2017).

    letzter Zugriff auf Websites: 09.11.22