Warum tritt das Gesundheitssystem auf der Stelle? Logo of esanum https://www.esanum.de

Sind unsere Gesundheitssysteme heilbar?

Wie sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir jetzt stehen? Wie ist es dazu gekommen, dass das Gesundheitssystem auf der Stelle tritt? Diese und weitere Fragen behandelt das Buch 'Curable' von Travis Christofferson.

Gesundheitssystem, wie geht es dir heute?

Die Gesundheitsausgaben in Deutschland beliefen sich in 2020 auf 440,6 Milliarden Euro. Das waren 5.298 Euro pro Kopf oder 13,1% des Bruttoinlandsproduktes.1 Vor der Coronakrise, im Jahr 2018 waren es 391 Milliarden.2

Laut einer Studie aus 2010 entfällt ein Viertel davon allein auf die Kosten für die Gesundheitsverwaltung (23%), das ist mehr als beispielsweise in jedem Zweig der deutschen Industrie. Zwei Drittel davon waren von den gesetzlichen Krankenkassen verursacht.3 Das bedeutet, dass pro 100 Euro Beitragszahlung höchstens 77 Euro für direkt am Patienten wertschöpfende Tätigkeiten ausgegeben werden konnten. Auch wenn diese Zahlen inzwischen einige Jahre alt sind, ist die Analyse noch immer relevant, denn sie offenbarte, dass die tatsächlichen Verwaltungskosten im Gesundheitssystem höher sind als offiziell berichtet und dass der wesentliche Treiber dafür die durch die GKV auf die Leistungserbringer übertragenen Verwaltungstätigkeiten sind. Zugleich zeigen Umfragen die bürokratische Überlastung immer wieder als einen der Hauptgründe für Berufsunzufriedenheit sowie Burnout bei medizinischem Personal.

Die eben genannte Auswertung schätzte, dass sich mindestens die Hälfte des von der GKV verursachten Verwaltungsaufwandes und der Kosten durch die Reduktion der Komplexität der Prozesse, Systeme und Regelungen einsparen ließe. "Wir sehen eine Reihe von Ansatzpunkten, mit deren Hilfe die Kosten gesenkt und ohne weiteren Mittelzufluss Leistungssteigerungen erzielt werden können." Bereits 2010 sprechen wir hier von einem Einsparpotenzial im zweistelligen Milliardenbereich.

Blick über den Teich: ein Drittel systembedingte Verschwendung

Noch verschärfter wirkt die Situation in den USA. Die Gesundheitsausgaben in den USA stiegen im Jahr 2020 um 9,7% und erreichten 4,1 Billionen Dollar, das entspricht 12.530 Dollar pro Person oder 19,7% des BIP.4 Vor Krisen wie 2020 waren $3.5 Billionen pro Jahr die Norm, was es bereits da zum teuersten Gesundheitssystem der Welt machte. Zum deutschen System bestehen zwar diverse Unterschiede, aber in Analogie zu uns entfallen etwa ein Drittel der Ausgaben innerhalb des Gesundheitssektors auf die Verwaltung.5 

Eingangs der Kurzzusammenfassung von 'Curable' heißt es: "Die Vereinigten Staaten sind auf bestem Wege, die kränkste Nation der westlichen Welt zu werden. Die Krebsraten steigen immer weiter. Es gibt eine Epidemie von chronischen Erkrankungen bei Kindern. Trotz all des Geldes und der modernen Innovationen in der Wissenschaft ist das Gesundheitssystem des Landes mehr als marode. Offensichtlich gibt es einen Fehler im System. Aber was ist, wenn die Lösung schon die ganze Zeit da war und wir nur zu blind waren, um sie zu sehen?"

Falsche Leistungsanreize als weitere Treiber der Kostenfalle

Was es wirklich guter Medizin auch immer schwieriger macht und Verschwendung Vorschub gibt, sind ökonomische Zwänge und Fehlanreize. Diese erzwingen einen Fokus nicht auf das, was eigentlich entscheidend ist, nämlich die Outcomes, sondern auf die Wirtschaftlichkeit.

So mag es viele einfache Therapien und Präventionsmaßnahmen geben, die zwar effektiv, aber personell kaum darstellbar sind oder mit denen sich kein Geld verdienen lässt. Ein Beispiel: eine noch so wirksame und differenzierte Beratung zu Ernährung bei Diabetes Typ 2 könnte zwar Medikamente einsparen und Komplikationen bei den Betroffenen senken, ist aber zeitintensiv und lässt sich kaum angemessen abrechnen. Gerade teure Therapien und apparative Diagnostik werden so priorisiert, auch wenn deren Kosten nicht immer ein adäquater Nutzen gegenüber steht. 

Es ist möglich: Neu-Inzentivierung als Chance, ein immer teurer werdendes System aufzufangen

Zu welchem Mehrwert der gegenteilige Ansatz beitragen würde, zeigen diverse Modellprojekte in verschiedenen Bereichen immer wieder aufs Neue. Eine der kostspieligsten Erkrankungen im System ist Diabetes. Geisinger Health, eine Gesundheitsorganisation in den USA, führte 'Fresh Food Farmacies' ein. Diabeteskranke und deren Angehörige erhielten dort 'auf Rezept' kostenfrei 10 frische, gesunde Mahlzeiten pro Woche sowie 15 Stunden Fortbildung zur Erkrankung und zu gesundem Lebensstil. Das Ergebnis: eine Senkung der HbA1c-Werte, der Notaufnahmen und des Medikamentenbedarfs sowie eine 80-prozentige Reduktion der jährlichen Behandlungskosten für Diabetes.6

Intermountain Health, eine große amerikanische Krankenhaus-Kette, hat es ebenfalls verstanden, den Fokus auf Gesundheit zurückzuverlagern und entsprechendes Handeln zu belohnen. Es zahlt seinen ärztlichen Angestellten Boni aus – aber nicht für hohe OP-Zahlen, sondern für gute gesundheitliche Outcomes bei den Behandelten, was mit deutlichen Verbesserungen bei geringeren Ausgaben für das Gesundheitswesen einherging. Stehen verschiedene Behandlungsansätze zur Verfügung, wird basierend auf Daten verglichen, welche wirklich am besten funktioniert. Durchgeführt wird also, was medizinisch überlegen ist. So konnte das Unternehmen unter anderem die Zahl seiner postoperativen Infektionen sowie der respiratorischer Insuffizienz bei Neugeborenen senken.7 Vielerorts ist es leider umgekehrt: der kurzfristig wirtschaftlichste Ansatz dominiert, auch wenn zuweilen ein anderes Vorgehen medizinisch (und damit langfristig auch finanziell) optimaler wäre.

In seinem Buch schlägt Christofferson eine neue Sichtweise auf die Gesundheitsversorgung vor und bringt viele weitere solcher machbaren Beispiele, basierend auf Statistik, Evidenz, aber auch gesundem Menschenverstand sowie der gut recherchierten Geschichte unseres Gesundheitssystems. Was Sie in diesem Buch erwartet, ist im Klappentext wie folgt zusammengefasst: von Nobelpreis gekrönter psychologischer Forschung zum Thema confirmation bias*, über enorm erfolgreiche Wirtschaftsphilosophie, den Aufstieg der klinischen Studie, bis hin zu innovativen Behandlungsmethoden, die von den Aufsichtsbehörden routinemäßig übersehen werden, und überholten medizinischen Modellen, die Profit Vorrang vor Prävention geben.8

*die Neigung, Informationen so auszuwählen, zu ermitteln und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen erfüllen

Referenzen: 

  1. Gesundheitsausgaben. Statistisches Bundesamt https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/_inhalt.html.
  2. The German healthcare system. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/200629_BMG_Das_deutsche_Gesundheitssystem_EN.pdf.
  3. 40,4 Milliarden Euro Kosten durch aufgeblasene Verwaltung. https://healthcare-in-europe.com/de/news/healthcare-in-europe.com/de/news/40-4-milliarden-euro-kosten-durch-aufgeblasene-verwaltung.html.
  4. National Health Expenditure Data. https://www.cms.gov/Research-Statistics-Data-and-Systems/Statistics-Trends-and-Reports/NationalHealthExpendData/NationalHealthAccountsHistorical.
  5. Cutler, D. The World’s Costliest Health Care. Harvard Magazine https://www.harvardmagazine.com/2020/05/feature-forum-costliest-health-care (2020).
  6. Population Health Strategies for Diabetes Care | RTI Health Advance. https://healthcare.rti.org/insights/population-health-strategies-for-diabetes-access-to-care.
  7. Mercola J. How Doctors Are Incentivized(...). https://takecontrol.substack.com/p/radical-innovators-trying-transform-health-care (2022).
  8. Curable: How an Unlikely Group of Radical Innovators Is Trying to Transform our Health Care System|Hardcover. Barnes & Noble https://www.barnesandnoble.com/w/curable-travis-christofferson/1132587095.

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