Chronischer Rückenschmerz – wieviel Diagnostik braucht die Therapie? Mit dieser Fragestellung beschäftige sich auf einem Workshop beim Schmerzkongress in Mannheim der Physiotherapeut Georg Supp, International Instructor des McKenzie Institute International.
Eingangs berichtet Referent Georg Supp von einem Beispiel aus der Praxis. Eine Patientin erklärt dem Physiotherapeuten zum Thema Bewegung: "Ich habe meinen Kernspin gesehen, mit der Bandscheibe bücke ich mich doch nicht!"
Was läuft hier schief? Das fragt Georg Supp in die Runde. Der Workshop richtet sich vor allem an die ÄrztInnen, sie will der Referent ausdrücklich ins Boot holen, sich mehr über die Funktion klar zu werden und weniger auf die Bildgebung und strukturelle Veränderungen zu setzen. Sein Appell: "Legen Sie die Bilder mal beiseite, wir behandeln den Schmerz und nicht die Struktur." Sinnvoll sei, beim chronischen Rückenschmerzpatienten grundsätzlich auf die Funktion zu schauen.
Supp ist überzeugt: "Was beim akuten Rückenschmerz nicht klappt, funktioniert beim chronischen schon gar nicht." Anhand zahlreicher Studien belegt der erfahrene Physiotherapeut: Strukturdiagnosen sind bei chronischem Rückenschmerz meist unmöglich. Trotzdem spielt Bildgebung immer noch eine übergroße Rolle. Bildbefunde bergen aber nachweislich konkrete Gefahren: unverhältnismäßige medizinische Interventionen, Glaubenssätze und Fehlinterpretationen durch die PatientInnen selbst.
Tests, die strukturelle Unzulänglichkeiten identifizieren sollen, halten epidemiologischen Studien nicht stand. Da RückenpatientInnen dazu neigen, ihre Beschwerden im rein biomechanischen Kontext zu sehen, ist ein solches Vorgehen beim Management chronischer Rückenschmerzen kontraproduktiv.
Der Review von Brinjikji (2015) wertet Bilder von über 3.000 Rücken-Gesunden zwischen 20 und 80 Jahren aus.
Bildgebung bei Rückengesunden
Es fanden sich:
Georg Supp wählt in seiner Schlussfolgerung einen Vergleich: "Fotos zeigen unser Alter von außen. Kernspintomographien zeigen unser Alter von innen."
Nakashima (2015) hat mehr als 1200 Freiwillige aus der Umgebung seines Hospitals in Nagoya/Japan ins Kernspinn geschoben. Voraussetzung: sie alle hatten aktuell keine Nackenprobleme. Ergebnis: Diskus-Protrusionen fanden sich bei 73 Prozent der Jüngeren und bis zu 87 Prozent bei Älteren.
Daimen (2018) hat nach Auffälligkeiten in der HWS-Stellung geschaut und fand dort ebenfalls keine Korrelation zwischen gesund und nicht gesund.
Schlussfolgerung: "Bilder zeigen eine Menge, unter Umständen auch Dinge, die gar nicht relevant sind," so Referent Supp. Strukturdiagnosen heben nach Expertenmeinungen auf viele verschiede Ursachen für chronischen Rückenschmerz ab: Diskus, Facettengelenke, das Iliosakralgelenk, Muskeln, Ligamente, Triggerpunkte, Faszien, Nervenwurzeln, psychosoziale Problematiken. "Ja", sagt der Referent, "wir finden Strukturen bei chronischen Rückenschmerzpatienten - aber die Realität sieht anders aus." Es sei eben nicht so, dass Strukturen zu definieren sind, die den Rückenschmerz ausmachen.
Eine Studie von 1985 (Dieck et al) zeigt das sehr einleuchtend. 900 Highschool-Absolventinnen wurden auf vier verschiedene Asymmetrien untersucht, beispielsweise Beckenschiefstand und Schulterasymmetrien. Diese 900 Frauen wurden über 25 Jahre verfolgt, um zu sehen, ob es Unterschiede gibt zwischen jenen, die Asymmetrien zeigten und denen die keine hatten. Waren diejenigen mit Asymmetrien mehr bei Ärztinnen oder Ärzten? Hatten sie mehr Schmerzen? Es zeigte sich keinerlei Korrelation.
Dazu lässt Referent Supp die TeilnehmerInnen in unterhaltsamen Rollenspielen erleben, wie sich der PatientInnen im Gespräch über seine Beschwerden fühlt und wie sie als Ärztinnen und Ärzte die Kommunikation mit den PatientInnen verbessern können. Es geht im Grundsatz um Angstabbau.
Apparative Diagnostik führt eher nicht zur Beruhigung von PatientInnen, steigert nicht die Selbsteinschätzung und verbessert langfristig nicht ihr Outcome. Daher sollten medizinische Fachleute RückenpatientInnen mit Bedacht aufklären. Die Art und Weise, wie über radiologische Befunde gesprochen wird, kann die Prognose beeinflussen. Manche MedizinerInnen verwenden unwissentlich angsteinflößende Begriffe. Doch sorgfältig gewählte Erklärungen könnten beim Angstabbau helfen.
Am Beispiel des Patienten Schmidt, 50 Jahre alt, seit 6 Jahren Rückenschmerzen im Ranking von 6 bis 8, Bandscheibenvorfall, zeigt Georg Supp den Fortschritt bei körperlicher Aktivität. Zu Beginn hat der Patient Angst, "es könne etwas kaputt gehen". Aber er soll sich dennoch in der Praxis beugen. Der Therapeut bewegt sich mit. Er fragt: "Wird der Schmerz eher mehr oder weniger?" Im Film-Beispiel aus der Praxis merkt der Patient: Der Schmerz wird nicht stärker, wenn er sich beugt, aber im Laufe der Zeit kann er die Beugung immer besser ausführen.
Zahlreiche Studien haben das Prinzip, WirbelsäulenpatientInnen mit Hilfe von wiederholten endgradigen Bewegungen zu untersuchen und zu behandeln, evaluiert. Es gibt Fragebögen, die im Anamnesegespräch Hinweise bringen, welche Haltungen und Bewegungen im Alltag eine Rolle spielen - eher die Beugung, die Streckung, Haltungen, Dynamik? Was macht die Patientin oder den Patienten besser oder schlechter im Alltag? Es zeigte sich, dass diese Herangehensweise sicher und reliabel ist und prognostische Aussagen ermöglicht. Patientnnen werden hierbei in die Untersuchung einbezogen - das hilft, Ängste, Depressionen, negative Glaubenssätze abzubauen und die Selbsteinschätzung zu verbessern.