1. Kopfschmerzkongress der DMKG - Interview mit den Kongresspräsidenten Logo of esanum https://www.esanum.de

Die leise Epidemie: Mehr Aufmerksamkeit für Kopfschmerz und Migräne

Die Kopfschmerzforschung steht im Fokus des ersten Migränekongresses der DMKG. Im Interwiew sprechen die Kongresspräsidenten über Therapieoptionen bei Kopfschmerzen sowie Zusammenhänge mit Long-COVID oder der COVID-Impfung.

Interview mit Dr. Gudrun Goßrau und Dr. Tim Jürgens

Die  Kopfschmerzexpertin PD Dr. Gudrun Goßrau, Leiterin der Kopfschmerzambulanz der Universitätsklinik Dresden und der Gesichtsschmerzexperte PD Dr. Tim Jürgens, Neurologe am KMG Klinikum Güstrow, sind Präsidenten des ersten wissenschaftlichen Kopfschmerzkongresses der DMKG. Im esanum-Interview erklären sie, warum sie sich auf diese Veranstaltung besonders freuen.

Frau Dr. Goßrau, was ist Anliegen dieses Kongresses, der nun zum ersten Mal tagt?

Dr. Goßrau: Das neue Format möchte die Awareness für den Kopfschmerz weiter erhöhen. Noch immer bekommen Kopfschmerzen und Migräne als ernstzunehmende Erkrankungen nicht die adäquate Aufmerksamkeit. Die Grundlagenforschung hat eine Vielzahl neuer nichtmedikamentöser und medikamentöser Therapieoptionen erarbeitet. Es ist unser Anliegen, die neuen, wissenschaftlichen Erkenntnisse an das Publikum zu bringen - vom Tiermodell bis zum Transfer in die Klinik.

Neben den neuen Wirkstoffen werden besonders intensiv die nichtmedikamentösen Therapien und ihre richtige Anwendung vorgestellt: Entspannungstechniken, Physiotherapien, die multimodale Therapie. Auch wird die Rolle des CGRPs gründlich beleuchtet - des Neurotransmitters, der im Trigeminus-versorgten Bereich wesentlich für die Weiterleitung von Schmerzreizen verantwortlich ist. Auf diesem Ansatz basieren viele neue Therapien. Außerdem geht es uns um die Versorgungssituation, um bessere Anlaufstellen für alle Betroffenen. Die Mehrzahl der Patienten ist in einem arbeitsfähigen Alter und braucht zügige Behandlung. Wenn von den acht Millionen Betroffenen, ein bis zwei Prozent schwer betroffen sind, ist das sehr ernst zu nehmen. 

An wen wendet sich der neu kreierte Kongress?

Dr. Jürgens: Wir wenden uns an die Hausärzte, die im Alltag die ersten Ansprechpartner für Betroffene sind. Und wir laden auch benachbarte Berufsgruppen ein - wie Psychologen und Physiotherapeuten. Kopfschmerz ist eine ernste neurologische Erkrankung, die sich positioniert zwischen der Neurologie, der Anästhesie, der Schmerzmedizin und Fächern wie Orthopädie, Zahnmedizin. Diese kommen jetzt auf dem Kongress zusammen.

Da wir neue Therapiemöglichkeiten haben, ist das Krankheitsbild neuerdings mehr im Fokus - sowohl in der Bevölkerung als auch in der Medizin. Unsere Botschaft ist: Die Krankheit ist ernst zu nehmen und sie ist gut behandelbar. Der Kongress will die Grundlagen dafür legen, dass alle, die sich dafür interessieren, das entsprechende Handwerkszeug kennenlernen.

Auf welche Highlights und Inhalte beim Kongress freuen Sie sich besonders?

Dr. Großrau: Sehr spannend wird das Auftaktsymposium, wo wir eine interdisziplinäre Diskussion haben, bei der verschiedene Player zusammengeführt werden - wie Vertreter der Schmerzgesellschaft, aber auch Vertreter der Allgemeinmedizin. Hier möchten wir interdisziplinär und interprofessionell Schnittstellen schaffen. Es wird auch um Kinderkopfschmerz gehen, dessen Auftreten sich offenbar postpandemisch verstärkt hat. Damit beschäftigen wir uns in Dresden an der Uniklinik besonders. Dieses Thema führt auch in die Zukunft. Je besser wir Kinder und Jugendliche mit einschränkenden Kopfschmerzen diagnostizieren und therapieren, desto besser können diese jungen Menschen leben und die Gesellschaft mitentwickeln. 

Dr. Jürgens: Besonders freue ich mich auf die kollegialen Diskussionen, die sich ergeben werden. Wir zielen auf einen interaktive, fast familiäre Atmosphäre und freuen uns auf einen anspruchsvollen, aber entspannten Austausch, von dem am Ende jeder in seinem Alltag profitieren kann. Besonders am Herzen liegt uns, dass wir auch junge Kolleginnen und Kollegen einbinden konnten, die mit ihren Beiträgen den Kongress lebendig machen werden.

Für alle haben wir ein attraktives Angebot gesetzt. So zum Beispiel neuere Themen wie die Fahrtauglichkeit nach Medikamenteneinnahme. Ein spannender Fachvortrag dreht sich um  Wechselwirkungen von Pharmazeutika. Ganz neu ist der Aspekt Kopfschmerz nach Covid-Infektion und Covid-Impfung. Aktuell wichtig: Wie kann man das diagnostizieren und wie wird es gut behandelt? Ein weiteres Top-Thema ist Cannabis und Schmerz. Zur Wirksamkeit bei Kopfschmerzen gibt es noch wenig Daten. Wir werfen einen unvoreingenommenen Blick auf die Substanzklasse - und fragen: Wo liegen eventuell Chancen und welche Risiken sehen wir? Es wird hier vor allem auch um Patienten gehen, die als refraktär gelten und auf andere Therapien bisher nicht ansprechen. 

Welche Zusammenhänge von Kopfschmerz und Long Covid sind bekannt?

Dr. Goßrau: Das ist ein großes Thema und betrifft viele Patientinnen und Patienten - etwa 50 Prozent der Covid-Betroffenen haben Kopfschmerzen und bis zu 15 Prozent mit Post-Covid-Syndrom. Soweit wir jetzt wissen, ist der Zusammenhang multifaktoriell und noch nicht sehr gut erforscht. Es sieht so aus, dass sowohl organische als auch psychologische und soziale Aspekte hineinspielen. Dazu haben wir eine Kollegin aus einer Reha-Einrichtung eingeladen, die viel Erfahrung mit dem Thema hat.

Und wie sieht es in dem Zusammenhang mit den Nebenwirkungen der Covid-Impfung aus? 

Dr. Goßrau: Dazu gibt es inzwischen einiges an Literatur. Es kann nach der Impfung beispielsweise zu prolongierten Kopfschmerzen kommen. Auch diese Zusammenhänge und das weitere Vorgehen werden wir beleuchten. 

Dr. Jürgens: Prof. Straubing aus München stellt spannende Daten zur Häufigkeit von Kopfschmerz nach Covid-Impfungen und bei Post-Covid vor.

Welche Neuigkeiten gibt es auf dem ersten Kopfschmerzkongress, die Betroffenen in der Praxis helfen können?

Dr. Goßrau: Wesentlich ist, dass viele Kolleginnen und Kollegen die neuen Erkenntnisse in den Praxisalltag mitnehmen und umsetzen. Die Interdisziplinarität des Kongresses und die Einbeziehung der Hausärzte werden wirksam dafür sorgen.

Dr. Jürgens: Es gibt zwei neue Akutmedikamente - Lasmiditan und Rimegepant. Beide sind frisch zugelassen. Die Substanzen machen Hoffnung. Sie sind einsetzbar, wenn Triptane kontraindiziert sind oder wenn sie nicht geholfen haben. Lasmiditan kann insbesondere älteren Patienten mit vaskulären Risiken helfen. Es gibt keine Kontraindikation bei Gefäßerkrankungen. Rimegepant ist in Deutschland noch nicht verfügbar, aber wir wissen, dass die Substanz sowohl akut als auch prophylaktisch wirksam ist. Das ist für viele Patienten eine neue Chance.