Kann Atemarbeit das Bewusstsein verändern? Logo of esanum https://www.esanum.de

Kann Atemarbeit das Bewusstsein verändern?

Psychedelika sind für Neurowissenschaftlerin Dr. Martha Havenith nicht die einzige Möglichkeit, veränderte Bewusstseinszustände zu erforschen. Sie arbeitet mit der freiwilligen Hyperventilation (Atemarbeit). Wie sie funktioniert, hat sie in einem spannenden Vortrag auf der Insight 2021 erzählt.

Kann Atemarbeit das Bewusstsein verändern?

Psychedelika sind für Neurowissenschaftlerin Dr. Martha Havenith nicht die einzige Möglichkeit, veränderte Bewusstseinszustände zu erforschen. Die Max-Planck-Forschungsgruppenleiterin am Ernst-Strüngmann-Institut für Neurowissenschaften arbeitet mit der freiwilligen Hyperventilation (Atemarbeit), um andere Wahrnehmungen zu errreichen. Wie genau das schnelle Atmen funktioniert und wie es wirkt, hat sie bei ihrem Vortrag auf der Insight 2021 erzählt.

Was ist Atemarbeit?

Atemarbeit wird bereits seit Tausenden Jahren von vielen Völkern genutzt. Dazu gehören spirituelle Techniken wie Kundalini-Yoga oder die Praktiken von amerikanischen Ureinwohnern. Und dann gibt es neuere oder wiederentdeckte Varianten wie holotropische Atemtechniken, mit dem Bewusstsein verbundene Atemtechniken oder die Wiedergeburt. Und obwohl sie verschiedene Einstellungen und Merkmale haben, haben sie alle ein gemeinsames Kernprinzip: Sie intensivieren den Atem durch langes und tiefes Einatmen und schnelles entspanntes Ausatmen. Entscheidend für alle wirkungsvollen Atemtechniken ist aber, dass Ein- und Ausatmen miteinander verbunden werden.

Zirkuläres Atmen – Wie funktioniert es?

Normalerweise machen Menschen Pausen zwischen dem Ein- und Ausatmen. Um nun veränderte Bewusstseinszustände herbeizuführen, greifen Experten auf das Zirkularatmen zurück. Hier wird nach dem langen Einatmen gleich wieder kurz ausgeatmet. Macht man dies einige Zeit, wird der Atem schneller. Zu den frühen Effekten gehören laut Havenith das Gefühl von kleinen Nadelstichen und ein leichtes Schwindelgefühl. "Aber wenn du noch ein paar Minuten weiter atmest, geschehen weitere interessante Dinge. Deine Wahrnehmung kann sich verändern … du kannst Farben anders sehen als sonst... es kann sein, dass du feststellst, dass sich Teile deines Körpers bewegen, ohne dass du das Gefühl hast, sie bewusst zu kontrollieren. Ich habe Menschen gesehen, die nicht sehr sportlich waren und plötzlich verrückte Yogafiguren halten konnten." Bei anderen Menschen seien Emotionen entstanden oder Erinnerungen an die Oberfläche gekommen, von denen sie nichts wussten.

„Und schließlich gab es Erfahrungen, die ich als Visionen bezeichnen würde“, sagt Havenith. Sie grenzt diese Bewusstseinszustände bewusst von den Begriffen Halluzination oder psychotisches Symptom ab. Denn bei der Atemarbeit würden Menschen zwar ebenfalls Dinge sehen, fühlen oder hören, die sie vorher nicht gekannt haben, aber sie wüssten sehr genau, dass diese Dinge nicht physisch wahrnehmbar seien. "Du könntest ein Gespräch mit jemandem haben, aber du weißt, dass dieser jemand nicht direkt vor dir steht. Es ist eher als würde dein Gehirn Informationen verarbeiten in einer Weise, die auf Bildern und Geräuschen basiert statt auf Worten." Dies sei kein Phänomen, das ein paar Menschen treffe, rund 80 bis 90 Prozent würden unerwartete Emotionen erleben, 30 bis 40 Prozent erleben Visionen.

Was passiert im Körper bei der Atemarbeit?

Anhand der verschiedenen Informationen stellen Havenith und Kollegen in anderen Publikationen eine Art Verschwörungstherorie auf, wie Atemarbeit wirkt. Die physiologischen Effekte durch Zirkularatmung seien durch Studien gut dokumentiert. So steige der Sauerstoffgehalt im Blut an und der CO2-Gehalt sinke, der pH-Wert des Blutes werde alkalischer, die Blutgefäße verengen sich, Herzschlag und Cortisol steigen. Eine Studie von Bednarczyk aus dem Jahr 1990 zeigt den Effekt: mehr CO2 führt zu einem höheren kortikalen Blutfluss. "Hier beginnen wir zu spekulieren, dass dies die bewusste Kontrolle sprengen könnte und der Grund dafür ist", sagt Havenith.

Welche Langzeiteffekte bewirkt die Atemarbeit?

Hat Atemarbeit denn auch einen langfristigen Effekt auf Körper und/ oder Geist? Eine Arbeit über die Langzeiteffekte haben im vergangenen Jahr die Neurowissenschaftler Brouwer und Carhart-Harris veröffentlicht. Für Havenith eine wichtige Arbeit. Nach Auffassung der Autoren lassen sich im Gehirn mentale Zustände hervorrufen, die ein schnelles und tiefgreifendes Lernen unterstützen und psychologische Veränderungen vermitteln könnten.

Durch das bewusste Atmen würde die neuronale Aktivität gesteigert, was in manchen Fällen sogar helfen könne Trauma, Angst oder Depressionen zu verarbeiten. Ein großer Vorteil der Atemarbeit sei zudem, dass sie ganz ohne Substanzen funktioniere und jeder immer und überall darauf Zugriff habe. Auch bleibe sie stets unter der eigenen Kontrolle und die Dynamik lasse sich individuell verändern. Wer sich von den vielen Eindrücken überfordert fühle, könne jederzeit damit aufhören. Das würden Psychedelika nicht bieten.
 

English Version: Can Breathwork alter the consciousness? (esanum.com)
Version française: L’hyperventilation volontaire et ses effets psychédéliques (esanum.fr)