Atopische Dermatitis und Suizidgedanken – Die Bedeutung der neuen „Scars of Life“-Studie
Vom EADV 2025 kommen alarmierende Zahlen: 13,2 % der AD-Patienten berichten von Suizidgedanken. Eine neue Studie identifiziert klare Risikofaktoren für den Praxisalltag.
Wenn die Haut zur seelischen Belastung wird: Suizidrisiko bei atopischer Dermatitis neu bewertet
(Paris) – Eine der bisher größten internationalen Untersuchungen, die „Scars of Life“-Studie, belegt mit eindrücklichen Zahlen eine signifikante Assoziation zwischen atopische Dermatitis (AD) und Suizidgedanken bei Erwachsenen. Die auf dem Kongress der European Academy of Dermatology and Venereology (EADV) 2025 in Paris präsentierten Studienergebnisse sind doppelt relevant für die klinische Praxis: Sie dokumentieren nicht nur besorgniserregende Prävalenzraten, sondern definieren auch spezifische Risikofaktoren, die als klinische Frühwarnindikatoren Beachtung finden sollten.
Die Entwicklung: Robuste Daten bestätigen eine hohe psychische Komorbidität
Während der Zusammenhang zwischen AD, Angststörungen und Depressionen bereits gut belegt ist, fehlten bislang robuste Daten zur Suizidalität. Die „Scars of Life“-Studie schließt diese Lücke. An der Querschnittsstudie nahmen 30.801 Erwachsene aus 27 Ländern teil, darunter 15.223 mit ärztlich bestätigter AD.
Die zentralen Ergebnisse zeigen eine deutliche Diskrepanz:
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13,2 % der Erwachsenen mit AD berichteten über Suizidgedanken.
- Im Vergleich dazu waren es in der Kontrollgruppe ohne AD nur 8,5 %.
Besonders relevant für die Praxis ist die Erkenntnis, dass das erhöhte Risiko unabhängig vom Manifestationsalter der AD bestand. Dies unterstreicht, dass die psychische Belastung eine konstante und langanhaltende Begleiterscheinung der Erkrankung ist.
Was bedeutet das für den Arbeitsalltag? Identifizierte Risikofaktoren als klinische Wegweiser
Die Studie identifiziert klar definierte Faktoren, die mit einem erhöhten Risiko für Suizidgedanken bei AD-Patienten assoziiert sind. Das Erkennen dieser Faktoren ermöglicht ein gezieltes Screening und eine frühzeitige Intervention.
Für den klinischen Alltag sind folgende Risikofaktoren von besonderer Relevanz:
Demografische Merkmale:
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Jüngeres Alter: Patienten unter 30 Jahren zeigten ein signifikant höheres Risiko (OR=1,6).
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Adipositas: Auch Fettleibigkeit erwies sich als relevanter Risikofaktor (OR=1,29).
Klinische Symptomatik:
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Schweregrad der AD: Eine mittelschwere bis schwere Ausprägung verdoppelte das Risiko für Suizidgedanken (OR=2,01). Dies ist ein klares Mandat, den Schweregrad nicht nur dermatologisch, sondern auch als Indikator für die psychische Vulnerabilität zu werten.
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Symptomlast: Starker Pruritus, Hautschmerzen und eine hohe allgemeine Symptomintensität waren ebenfalls signifikant mit dem Risiko assoziiert. Die subjektive Belastung des Patienten durch Juckreiz und Schmerz muss daher ernst genommen werden.
Psychosoziale und schlafbezogene Faktoren:
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Stigmatisierung: Patienten, die über eine hohe Stigmatisierungserfahrung berichteten, waren stärker gefährdet.
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Schlafstörungen: Insbesondere eine gemischte Insomnie (Ein- und Durchschlafstörungen) war ein starker Prädiktor (OR=1,78). Die gezielte Anamnese des Schlafs ist somit ein einfaches, aber wirkungsvolles Screening-Instrument.
Konsequenzen für die Praxis: Vom Symptom zum Patienten
Diese Ergebnisse, präsentiert im Rahmen des EADV-Kongresses 2025, fordern ein Umdenken im Management von AD-Patienten.
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Proaktives Screening: Es reicht nicht aus, auf die psychischen Probleme der Patienten zu warten. Die Frage nach der seelischen Verfassung, Schlafqualität und dem Gefühl der Stigmatisierung sollte ein fester Bestandteil der Anamnese bei Patienten mit AD sein, insbesondere bei Vorliegen der genannten Risikofaktoren.
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Ganzheitliches Management: Die Behandlung der Hautsymptome allein greift oft zu kurz. Die Studie untermauert die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes. Die frühzeitige Anbindung an psychologische oder psychiatrische Versorgung kann essenziell sein.
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Patientenkommunikation: Das offene Ansprechen der psychischen Dimension der Erkrankung kann für Betroffene bereits entlastend wirken und signalisiert, dass ihre Leiden ganzheitlich wahrgenommen werden.
„Die Ergebnisse machen deutlich, dass die Auswirkungen der atopischen Dermatitis tiefer gehen als nur die Haut. Suizidgedanken sind ein ernstes und häufiges Problem, das von medizinischem Fachpersonal oft übersehen wird.“
betont Dr. Delphine Kerob, eine der leitenden Forscherinnen.
Der Ausblick: Kulturelle Unterschiede und weitere Forschung
Ein Schwerpunkt zukünftiger Auswertungen wird auf der Analyse der signifikanten länderspezifischen Unterschiede in der Prävalenz von Suizidgedanken liegen. Als mögliche Ursachen für diese Varianz werden kulturelle Faktoren im Umgang mit der Erkrankung sowie Unterschiede in der psychosozialen Versorgungsstruktur diskutiert. Die Ergebnisse könnten entscheidende Impulse für die Entwicklung adaptierter, kultursensibler Präventionsstrategien liefern.
Für die klinische Praxis bedeuten diese Ergebnisse einen klaren Handlungsauftrag: Das psychische Wohlbefinden von AD-Patienten muss aktiv evaluiert werden, um Risikopersonen frühzeitig zu identifizieren und einer adäquaten psychosozialen Versorgung zuzuführen.
- Seneschal, J., Halioua, B., Tan, J., Gu, C., Luger, T., Dodiuk-Gad, R., Takaoka, R., Aslanian, F., Prakoeswa, C. R. S., Demessant-Flavigny, A.-L., Lefloch, C., Kerrouche, N., Merhand, S., Smith Begolka, W., Luca de Tena, Á., Burstein, S., Kerob, D., Taieb, C., Skayem, C., Kelbore, A. G., Misery, L., Tempark, T., Stratigos, A., Steinhoff, M., & Silverberg, J. I. (2025). Prevalence and risk factors of suicidal ideation in atopic eczema: Insights from the Scars of Life study. Presented at the European Academy of Dermatology and Venereology (EADV) Congress 2025.
- EADV Kongress 2025 - Pressemitteilung: Beyond the surface: Atopic eczema linked to significantly higher risk of suicidal thoughts, major study finds.
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