STI-Kongress 2022: Freiheit, Lust, Verantwortung – Mehr als ein Motto Logo of esanum https://www.esanum.de

STI-Kongress schlägt eine Brücke in die Praxis

Bei Fragen zur Sexualität geht es immer auch um Freiheit, Lust und Verantwortung: Ein erfülltes Sexualleben zu erfahren und trotzdem Verantwortung zu übernehmen, ist dabei gar nicht so einfach. Wie lassen sich diese Themen am besten in der Praxis adressieren?

Highlights des 66. Deutschen STI-Kongresses

Interview mit der Kongresspräsidentin PD Dr. Viviane Bremer MPH und dem Kongresspräsidenten Dr. Sven Schellberg

esanum: Der diesjährige STI-Kongress in Berlin steht unter dem Motto "Freiheit, Lust, Verantwortung". Was dürfen sich die Kolleginnen und Kollegen darunter vorstellen? Worum wird es gehen?

Schellberg: Es soll um das breite Spektrum der Sexualität gehen, nicht nur um sexuell übertragbare Infektionen. Sexualität ist etwas Tolles, Sexualität ist bunt. Ich sage immer, Leben ist sexuell übertragbar. Ohne Sexualität gäbe es uns nicht. Wir sprechen beim Kongress u.a. auch über Forschung und Leitlinien zur sexuellen Gesundheit im Allgemeinen. Es geht aber auch um Freiheit, um die Sicht auf Sexualität in der Gesellschaft. Damit eng verbunden ist die Verantwortung für sich selbst und auch für die Partnerinnen und Partner.

esanum: Einen besonderen Schwerpunkt wird sicher auch die aktuelle Pandemie spielen. Inwieweit hat diese die sexuelle Gesundheit in Deutschland beeinflusst?

Schellberg: Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Sexuelle Gesundheit ist mehr als nur Sex und Geschlechtskrankheiten. Was wir aber in der aktuellen Pandemie wohl alle gelernt haben, ist, dass sich Sexualiät nicht abschalten lässt. Aus der Praxis heraus würde ich sogar sagen, in Berlin hat sich nichts verändert. Wir hatten gefühlt genauso viele STI-Fälle wie vor der Pandemie. Die Menschen finden ihren Weg zu Nähe und Sexualität, allen Verboten zum Trotz. 

esanum: Dennoch ist die STI-Forschung natürlich in den vergangenen zwei Jahren auch weiterhin aktiv geblieben. Wie sieht es denn bei neuen Therapiemöglichkeiten oder bei der HIV-Impfung aus?

Bremer: So einen wirklichen Durchbruch bei der HIV-Impfung gibt es leider auch in diesem Jahr nicht zu berichten. Auch die letzten Impfstudien waren enttäuschend, aber dennoch wird natürlich auch daran weiter geforscht. Darüber hinaus haben wir eben auch auf dem Gebiet der STI nicht die tollen neuen Substanzen in der Therapie zu erwarten. Viele STI sind bakteriell verursacht und die Antibiotika-Forschung bietet der Pharmaindustrie nicht die Gewinnspanne, um dort wirklich in Vorleistung gehen zu müssen. Auf der anderen Seite verschärft sich aber gerade aktuell auch die Resistenzsituation, z.B. bei den Gonokokken, sodass wir nicht mehr jedes Antibiotikum wie selbstverständlich in der STI-Behandlung anwenden können.  

Schellberg: Die Rückschläge bei der HIV-Impfung sind natürlich keineswegs ein Grund, den Kopf jetzt in den Sand zu stecken. Ganz im Gegenteil, wir haben im Bereich HIV viel erreicht in den vergangenen Jahren, denken Sie nur an neue Therapiemöglichkeiten oder die Präexpositionsprophylaxe (kurz PrEP) in der HIV-Prävention. Natürlich möchten wir auch eine Impfung gegen HIV haben, aber auf dem Weg dorthin gilt es ebenso, die Therapiemöglichkeiten weiter zu optimieren und darüber z.B. die Lebensqualität und die Lebenserwartung der Menschen mit HIV weiter zu steigern. Mit Blick auf die STI kommen zu den Antibiotikaresistenzen leider noch Fehler in Diagnostik und Behandlung hinzu. Wir sehen zudem aktuell einen Shift hin zu mehr parasitären Erkrankungen und zu mehr proktologischen Erkrankungen, wie z.B. eine hochresistente Form der Shigellenruhr bei Männern, die Sex mit Männern haben.

esanum: Einen weiteren Schwerpunkt des Kongresses bilden neue Diagnostik-Tools, doch häufig ist unklar, bei welchen Patientinnen und Patienten überhaupt und was getestet werden soll. Gibt es dazu einen kurzen Praxistipp?

Bremer: Sehr wichtig ist es, vor allem miteinander zu reden. Patientinnen und Patienten schweigen oft über sexuelle Themen und hoffen insgeheim, dass der Arzt oder die Ärztin das Thema schon ansprechen wird. Viele Ärztinnen und Ärzte wiederum fühlen sich unsicher oder sind sogar erleichtert, wenn Sexualität nicht übermäßig besprochen werden muss. Letztlich führt diese Missverstehen auf beiden Seiten jedoch dazu, dass wichtige Themen nicht angesprochen werden und Bedarfe auf Patientenseite unberücksichtigt bleiben. Um überhaupt eine sinnvolle Diagnostik im Bereich STI planen zu können, ist das Gespräch über Sexualität und Vorlieben aber grundsätzlich nötig und muss dafür selbstverständlich in einem empathischen und nicht-wertenden Rahmen stattfinden.

Schellberg: Das Wesentliche beim Testen ist, dass die Kolleginnen und Kollegen testen dürfen. Viele trauen es sich nicht zu oder erzählen den Patientinnen und Patienten, dass diese solche Tests selbst tragen müssten. Das ist natürlich so nicht richtig, denn wie auch in anderen Bereichen der Medizin, darf ich als Arzt auf Verdacht auch STI über Tests abklären lassen und zwar zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherungen. Sexuelle übertragbare Infektionen können zudem überall am oder im Körper stattfinden. Sie sollten sich in der Anamnese und Diagnostik also von den Vorstellungen lösen, dass es ausreicht urethrale oder vaginale Abstriche zu machen – auch anale und orale Übertragungen kommen vor und sollten ebenfalls bedacht werden. Die Kolleginnen und Kollegen sollten häufiger auch einfach einmal nachfragen. Für die Mehrzahl der Erreger sollte zudem eine PCR-Diagnostik beauftragt werden, da diese sehr viel genauer ist und im Falle einiger Erreger auch therapieentscheidend sein kann.

esanum: Eines der Highlights beim STI-Kongress sind seit Jahren schon die sehr praxisnahen STI-Workshops. Was haben Sie diesmal für die Teilnehmenden vorbereitet?

Schellberg: Die Themenvielfalt der diesjährigen Workshops beim Kongress reicht von der Kommunikation über Sexualität in der Praxis bis hin zur bunten Welt der Sexualität in all ihren Facetten und sexuell übertragbare Erkrankungen. Wir wollen es den Teilnehmenden ermöglichen, miteinander ins Gespräch zu kommen, die eigene Komfortzone auch thematisch verlassen zu können, Netzwerke zu bilden und sich auf Neues einzulassen. Dies schließt auch den Austausch zwischen Patientinnen und Patienten und Ärzteschaft ganz selbstverständlich ein.

Bremer: Ganz wichtig für die Fach-Teilnehmerinnen und –Teilnehmer ist sicher auch der Workshop "Junge DSTIG", bei dem sich der wissenschaftliche Nachwuchs aller Disziplinen –wie Medizin, Sozialwissenschaften oder Psychologie – austauschen und neue Bande knüpfen sowie bereits bestehende Bande ausbauen kann.

esanum: Und bevor wir es vergessen: Wann und wo findet der mittlerweile 66.
STI-Kongress 2022 statt und wo können sich die Kolleginnen und Kollegen anmelden?

Bremer/Schellberg: Der 66. Deutsche STI-Kongress findet vom 23.–25. Juni 2022 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften direkt am Gandarmenmarkt in Berlin statt. Die Möglichkeit zur Anmeldung sowie weitere Informationen finden Interessierte auf der Kongressseite.

Berichterstattung vom STI-Kongress

esanum wird live vom STI-Kongress berichten und für Sie die Highlights des Kongresses  zusammenstellen.