Viren als Motoren der Evolution Logo of esanum https://www.esanum.de

Gute Viren als Treiber in der Medizin

Viren wirken seit Jahrmillionen in uns und haben uns erst zu den Menschen gemacht, die wir heute sind. Viren spielen zudem in der Medizin eine große Rolle und zwar als Helfer und Zukunftstechnologien.

Deshalb nützen uns Viren mehr als sie schaden

Sind wir Mensch oder Virus?

Viren gibt es sehr wahrscheinlich bereits seit etwa 3,5 Milliarden Jahren. Anfangs waren sie auch kaum mehr als verpacktes Genom. Doch gerade dieses Genom ist es, was Viren so interessant macht.

Alles Leben auf der Erde folgt dem gleichen elementaren genetischen Code und nutzt RNA und DNA für die Weitergabe von Erbinformationen. Darin unterscheiden sich weder Viren, noch Bakterien oder Pilze, noch der Mensch.

Ein paar wenige Viren jedoch basieren auf RNA und nutzen eines der effektivsten Enzyme der Natur, um ihre Erbinformationen in DNA umzuschreiben und anschließend in die Wirtszellen-DNA einzubauen. Die Rede ist natürlich von der Reversen Transkriptase (RT), wie wir sie beispielsweise in Retroviren finden, zu denen u.a. HIV gehört.

Dass solche Retroviren auf die menschliche Evolution wiederholt Einfluss genommen haben könnten, wird heutzutage nicht mehr bezweifelt. Beinahe die Hälfte unserer Gene basiert auf viraler DNA, die ursprünglich ihren Weg per Retrovirus in unsere Zellen gefunden hatte. Diese sogenannten Transposons sind inaktiv, können aber reaktiviert werden und dadurch innerhalb einer Zelle von Gen zu Gen springen. Daher nennt sie die Fachwelt auch "jumping genes".

Plazentare Schwangerschaften nur durch viralen Einfluss?

Besonders spannend ist zudem die Theorie, wie sich die Schwangerschaft der Plazentatiere entwickelt haben könnte. Vor etwa 85 Millionen Jahren könnte ein HIV-ähnliches Retrovirus zu einer teilweisen Immundefizienz geführt haben, welche die plazentare Reifung eines Embryos erst ermöglicht hat.

Normalerweise müsste der aus väterlichen und mütterlichen Genen bestehende Fetus als fremd erkannt und abgestoßen werden. Diese frühen Veränderungen in der Immunabwehr verhindern dies jedoch erfolgreich.

Aktuelle Virus-Genom-Interaktionen

Interessant ist darüber hinaus, dass noch immer Viren mit unseren Genen interagieren. HIV ist dafür eines der bekanntesten Beispiele. Doch aktuell wird in der Forschung ebenso angeregt diskutiert, inwieweit das Coronavirus SARS-CoV-2 als RNA-Virus nach reverser Transkription in menschliche Zellen integriert werden kann.

Die Folge wären sogenannte "locked-in"-Viren, die zwischen Genen springen, aber die Zellen nicht mehr verlassen können. Welche Auswirkungen dies auf das menschliche Genom und die Physiologie haben könnte, ist derzeit noch unklar.

Viren als Werkzeuge der Medizin

Zugegebenermaßen erinnern wir uns bei Thema Viren vor allem an die Influenza, an SARS-CoV-2, HIV, Ebola, und viele andere gefährliche Krankheitserreger. Doch wären Viren per se nur daran interessiert, Krankheiten zu verursachen und zu töten, hätten sie sich wohl bereits längst die Lebensgrundlage entzogen.

Viren haben immer auch eine positive Seite. Sie sind vor allem Motoren der Evolution. Als solche können sie dem Menschen und vor allem der Medizin in Zukunft nützlich sein. Sie bringen dann womöglich Lösungen für derzeit unlösbar erscheinende Probleme.

Ganz konkret ermöglichen Viren:

  • in der Rolle als Vektoren, ganz bestimmte Gene in beliebige Zielzellen einzuschleusen. Dadurch sind Viren wertvolle "Überträger" von Gentherapien in der Medizin oder auch zielgenaue Überbinger von Medikamenten in der Onkologie.
  • als Impfvektoren gegen die eigentlichen krankheitserregenden Virusvertreter erfolgreiche Impfprogramme umzusetzen.
  • in Form der Bakteriophagen das drohende Zeitalter der Antibiotika-Resistenzen zu überwinden. Bakteriophagen sind Viren, welche wirtsspezifisch sind und daher nur jeweils eine Bakterienart befallen und abtöten. Damit wären Bakteriophagen in Zukunft eine elegante Möglichkeit, ausgewählte multiresistente Bakterienstämme zu eliminieren, ohne andere Spezies zu beeinträchtigen.

Fazit

Viren formen und verändern die Erde und das Leben auf ihr seit Jahrmillionen. Lediglich ihr Wirken als Krankheitserreger und tobringendes Agens zu sehen, wird den Leistungen der Viren jedoch nicht gerecht.

Viren sind vielmehr Treiber der Evolution. Die Hälfte des menschlichen Genoms sind virale Gene, welche unsere wichtige Erbinformation schützen, ihr Variabilität erlauben und so auch neue Varianten hervorbringen.

In Medizin und Forschung sind Viren optimal angepasste Genvehikel, um Gendefekte zu heilen, Impfungen zu ermöglichen oder aggressive multiresistente Keime zu bekämpfen. Und wie in jeder Familie, gibt es ebenso in jeder Virusfamilie gute und weniger gute Mitglieder. Umso wichtiger ist es, die "Guten" nicht pauschal mit zu verteufeln, sondern sich eine gesunde Begeisterung für die Welt der Viren zu bewahren und die Zusammenarbeit mit ihnen zu suchen. So können wir möglicherweise schon bald drängende Medizinfragen unserer Zeit mit dem Jahrmillionen alten Knowhow mancher Viren lösen.

Quelle:
Prof. Dr. med. Karin Mölling. HIV in der Evolution. Leopoldina-Symposium vom 22. Juni 2022, Berlin