Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen: Prävalenz steigt nach Corona-Pandemie wieder Logo of esanum https://www.esanum.de

Schüler im Lockdown: erst weniger Kopfschmerz - jetzt weiter deutlich steigend

Wie der Lockdown die Häufigkeit von Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen beeinflusste und warum mit der Rückkehr zur Normalität nun eine Zunahme verzeichnet wird, darüber sprach Dr. Gudrun Goßrau im esanum-Interview.

Interview mit Dr. Gudrun Goßrau

esanum: Frau Dr. Goßrau, während des Lockdowns kam es  zu einer deutlich messbaren Kopfschmerzreduktion bei Kindern und Jugendlichen? Was waren die Gründe?

Dr. Goßrau: Es gab ja verschiedene Lockdowns - man muss also differenzieren. Ich habe konkret eine Studie aus Italien aus dem Frühjahr 2020 vorgestellt. Sie zeigte, dass Kinder und Jugendliche, die plötzlich ruhig zu Hause saßen, ein Nachlassen der Schulbelastung erlebten. Damit fielen die Schulangst und Schulanstrengung weg, die sonst bei vielen jungen Kopfschmerzpatienten eine Rolle spielt. Das betraf besonders jene mit häufigen Kopfschmerzen, die bisher auch mit medikamentösen Prophylaxen nicht therapierbar waren - selbst diese zeigten im Lockdown eine deutliche Besserung. Die Häufigkeit der Kopfschmerztage ging bei vielen zurück. Während sie vor dem Lockdown im Mittel bei 7,4 Tagen lagen, gingen sie im Lockdown auf fünf Tage zurück. Aktuell untersuchen wir entsprechende Vergleiche zwischen Lockdown und normalen Schulbetrieb an einer Dresdner Schule. Krankenversicherungsdaten in Sachsen zeigen aber auch, dass die Kopfschmerzhäufigkeit bei Kindern und Jugendlichen vor Corona von 2015 bis 2019 jährlich um 30 Prozent stieg. Nach der Pandemie sehen wir hier eine weitere Zunahme.

esanum: Welche Ursachen sehen Sie?

Dr. Goßrau: Für die Daten nach der Pandemie kann man klar erkennen, dass die Reduktion der körperlichen Aktivitäten ein großer Faktor ist. Der Wegfall von Schulstress im Lockdown hat zwar zunächst die Kopfschmerzen reduziert, dann aber nehmen sie im Langzeitverlauf wieder zu. Die vermehrte Mediennutzung spielt hier eine Rolle. Zugleich sind Sportmöglichkeiten in Vereinen und ähnlichem in der Pandemie zurückgegangen und wurden seitdem auch nicht wieder neu geschaffen. Hinzu kommt, dass viel Schulstoff nachgeholt werden muss, der im Lockdown zu kurz kam. Das erhöht den Druck auf die Kinder und Jugendlichen wieder und produziert zusätzlichen Stress. Wir sehen also wieder viel mehr junge Kopfschmerz-Patienten.

esanum: Wie geht es mit den jungen Patienten im Lauf des Lebens voraussichtlich weiter?

Dr. Goßrau: Eine Analyse aus Spanien zur Prognose von Kopfschmerzen im Jugendalter zeigt, dass das geschlechtsabhängig ist. Männliches Geschlecht schützt davor, im weiteren Leben Migräne und Kopfschmerzen zu haben, während das weibliche Geschlecht sich ungünstig auf die Prognose auswirkt. Etwa die Hälfte der Menschen, die als Jugendliche schon Kopfschmerzen hatten, leiden auch 25 Jahre später an Kopfschmerzen - und das sind vor allem Frauen. Für die Mehrzahl der Patienten sind Migräne und Kopfschmerz heute gut behandelbar. Auch unsere eigenen Daten zeigen, dass Mädchen höhere Kopfschmerzfrequenzen haben und die dadurch bedingte Beeinträchtigung in der Schule und im Alltag für sie deutlich höher ausfällt.

esanum: Wie sehen Stressmanagement und Bewältigungsstrategien zur Kopfschmerzreduktion bei Kindern und Jugendlichen aus?

Dr. Goßrau: Die ambulante Behandlung sollte Edukation und Verhaltenstraining beinhalten. Eine Möglichkeit ist die Verhaltenstherapie, um beispielsweise das Stressmanagement zu verbessern. Allerdings haben wir gemessen an dem gestiegenen Bedarf viel zu wenige Plätze für solche Therapien. In Dresden bieten wir ein multimodales, ambulantes Programm (Dresdner Kinder-, Jugend-Kopfschmerz-Programm DreKiP) an, bei dem wir in acht Terminen Edukation, Strategien zur Stressbewältigung und körperliche Aktivierung in den Mittelpunkt stellen. Daten zur Evaluation zeigen, dass das sehr gut funktioniert und nach 6 bis 12 Monaten bis zu 85% der jungen Patienten deutlich besser ihren Alltag meistern können. Aber solche Programme sind nicht deutschlandweit vorhanden. In Sachsen erweitern wir das Programm derzeit in verschiedene Regionen, um eine wohnortnahe Therapie zu ermöglichen. Kollegen aus Berlin, Brandenburg oder dem Norden möchten die jungen Patienten zu uns senden. Aber das ist natürlich nicht praktikabel. Unser Anliegen ist jetzt, unser Programm und unsere Erfahrungen in die Breite zu bringen und mit verschiedenen Einrichtungen zu kooperieren. So haben zum Beispiel Kollegen aus Trier bereits unsere Erfahrungen übernommen. 

esanum: Das klingt wie ein Tropfen auf den heißen Stein…

Dr. Goßrau: Ja. Wenn man allein die Daten der AOK Rheinland sieht, die zeigen, dass die kopfschmerzbedingten Krankschreibungen sich seit 2003 vervierfacht haben, sieht man eine riesige Krankheitswelle auf uns zurollen. Und besonders häufig sind die berufstätigen unter 30 jährigen betroffen. Elf bis 20 AU-Fälle pro 100 Versicherte pro Jahr wegen Kopfschmerz und Migräne - das ist schon eine Hausnummer. Weltweit haben wir eine gepoolte Prävalenz bei den bis zu 17 jährigen von 11 Prozent - Tendenz steigend, auch in Deutschland. Da muss bei den Therapiemöglichkeiten unbedingt etwas geschehen. 

esanum: Welche Problematik gibt es in der medikamentösen Migräneprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland?

Dr. Goßrau: Das ist auch ein heißes Thema. Entsprechende Studien enden oft mit einem mageren Ergebnis, weil der Placebo-Effekt  bei Kindern und Jugendlichen viel höher ausfällt als bei Erwachsenen. Eine große Studie aus den USA hat Topiramat mit Placebo und Amitriptylin verglichen. Die drei Gruppen haben sehr ähnlich abgeschnitten, aber diejenigen mit den echten Medikamenten hatten deutlich mehr Nebenwirkungen. Das heißt, wir brauchen mehr große Studien, um herauszufinden, was  bei Kindern und Jugendlichen wirklich funktioniert.

Migräne läuft bei unseren jungen Patienten hirnorganisch etwas anders ab als bei Erwachsenen. Man weiß, dass zentrale Netzwerke bei Kindern und Jugendlichen flexibler aufgebaut sind als bei Erwachsenen. Das wirkt sich sehr wahrscheinlich auf die Schmerzchronifizierungs-Netzwerke aus. Daher können wir mit den multimodalen Ansätzen hier sehr viel erreichen. Entspannung, Stressmanagement und körperliche Aktivität sollten zur Therapie dazu gehören. 

esanum: Wie sieht es mit der CGRP-basierten Therapie bei Kindern und Jugendlichen aus?

Dr. Goßrau: Es laufen entsprechende Studien. Und auch hier zeichnet sich ab, dass diese bei Kindern und Jugendlichen nicht so einfach durchzuführen sind. Es existieren zum Teil Vorbehalte und es zeigen sich auch hohe Placebo-Quoten - so um die 50 Prozent waren es bei Triptan-Studien. Allerdings sehen wir in den wenigen  Fallserien bisher mit hoch betroffenen Kindern und Jugendlichen bei ca. 50 Prozent eine deutliche Besserung.

Kurzbiographie Dr. Gudrun Goßrau 

Priv.-Doz. Dr. med. Gudrun Goßrau ist Fachärztin für Neurologie -
Spezielle Schmerztherapie und Leiterin der Kopfschmerzsprechstunde am Interdisziplinären Universitätsschmerzzentrum des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus in Dresden. Sie ist außerdem DMKG Regionalbeauftragte und Zertifizierte DMKG Kopf- und Gesichtsschmerzexpertin.



 

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Der DGN-Kongress 2023 vom 8. bis zum 11. November im CityCube Berlin hat den Fokus auf neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson gelegt. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat mit ihrem Programm die neurologischen Folgen einer alternden Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt. Hier finden Sie die aktuelle esanum-Berichterstattung vom DGN-Kongress.