Dass die Diagnostik und Therapie dissoziativer Störungen bei Kindern und Jugendlichen eine interdisziplinäre Herausforderung ist, wurde auf einem Symposium auf der 115. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) im ICM in München deutlich.
Dr. Stephan Springer von der Klinik Hochried in Murnau hob hervor, wie wichtig eine frühzeitige Diagnose ist: Die Prognose bei dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen) ist bei Kindern doppelt so gut wie bei Erwachsenen. Kommt es hingegen zu einer Chronifizierung, verschlechtert das die Prognose deutlich.
Charakteristisch für dissoziative Störungen ist der Verlust der normalen Integration von selektiven Erinnerungen, des Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen und der Kontrolle von Körperbewegungen. Zugrunde liegt eine "psychogene" Symptomatik mit zeitlicher Verbindung zu Traumata und Konflikten. Der Verlauf kann spontan-remittierend sein (nach Wochen), chronisch (nach Monaten) oder auch potentiell therapieresistent (nach Jahren).
Abgegrenzt werden dissoziative Störungen von der Simulation, Somatisierungsstörungen, Denk- und Wahrnehmungsstörungen bei psychiatrischen Erkrankungen und von der hirnorganischen Genese. Persönlichkeitsstörungen, Depression (und schizoaffektive Störungen), Autismus und Angststörungen sind Differentialdiagnosen - häufig auch Komorbiditäten - und verstärken die Symptomatik. Die Abgrenzung ist auch interdisziplinär oft schwierig.
Formen dissoziativer Störungen: Dissoziative Amnesie, Dissoziative Fugue, Dissoziativer Stupor, Trance- und Besessenheitszustände, Dissoziative Bewegungsstörungen, Dissoziative Krampfanfälle, Dissoziative Sensibilitäts-und Empfindungsstörungen, gemischte Dissoziative Störungen und die multiple Persönlichkeitsstörung.
Dissoziative Störungen müssen auch von der organischen dissoziativen Störung und von der histrionischen Persönlichkeitsstörung abgegrenzt werden. Liegt eine organische dissoziative Störung vor, ist die Symptomatik wie bei dissoziativen Störungen, hinzu kommen Kriterien einer organischen psychischen Störung durch Nachweis einer zerebralen Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung im wahrscheinlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen organischer und psychischer Störung oder auch durch Rückbildung der psychischen Störung bei Besserung der zugrundeliegenden Erkrankung.
Für die histrionische Persönlichkeitsstörung ist normabweichendes Verhalten (in Kognition, Affektivität, Impulskontrolle, Beziehungen) charakteristisch, hinzu kommen soziale Beeinträchtigung, Leidensdruck, keine andere organische oder psychische Ursache. Typisch sind eine dramatische Selbstdarstellung, die Suche nach Mittelpunkt und Aufmerksamkeit, Suggestibilität und oberflächliche Affektivität.
Dissoziative Störungen sind psychiatrisch, neuropädiatrisch, hinsichtlich ihrer Anamnese und ihrer Therapie eine Herausforderung. Psychiatrisch ist zu bedenken, dass Komorbiditäten (Depression, PTBS, Persönlichkeitsstörungen, Autismus) die Symptome verstärken und verändern können. Notwendig ist deshalb eine Trennung zwischen Ursachen, Auslösern und Verstärkern. Somatische Versorgungsstrukturen sind genauso notwendig wie kombinierte Neuro-Psycho-Pharmakotherapien mit besonderen Begleit- und Wechselwirkungen.
Neuropädiatrisch sind dissoziative Störungen von neurologischer Komorbidität (Epilepsie oder anderen neurologischen Erkrankung) abzugrenzen. Wobei Komorbiditäten häufig auftreten (Epilepsie, CP, Dystonien). Bei der Medikation ist auf Wirkung und Begleitwirkungen und auf Wechselwirkungen mit anderen Psychopharmaka zu achten.
Die Anamnese ist zeitaufwendig, sie kann widersprüchlich sein und wechselnde Diagnosen ergeben. Umwelt und Bezugspersonen spielen eine große Rolle. Der Affekt der PatientInnen oder der Begleitung zur Symptomschwere sind inadäquat.
Für die Therapie gilt: Die Prognose ist bei Kindern deutlich besser als bei Erwachsenen. Tatsächlich gibt es aber fast nur für Erwachsene stationäre Therapieangebote. Therapievoraussetzung ist, dass sich ein Verständnis der Störung und eine Motivation zur Therapie bei PatientInnen und Eltern entwickelt. Interdiziplinäre therapeutische Angebote sind aufwendig und sie sollten als Therapieziel "Teilhabe" vor "Funktion" und "Aktivität" haben.
Ein Plädoyer für die Rückkehr zur Anamnese hielt Dr. Joachim Opp, Chefarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums am Evangelischen Krankhaus, Oberhausen.
Opp betonte, wie wichtig es ist, das Patientengespräch mit dem Kind alleine zu führen und die Kinder zu Beginn des Gesprächs frei erzählen zu lassen. Im freien Gespräch deuten sich schon in der Schilderung des Anfalls Unterschiede an.
Unterschiede in der Beschreibung zwischen dissoziativem Anfall und epileptischem Anfall:
Dissoziativ |
Epileptisch |
|
Relevantsetzung |
"Ich bin ausgeliefert" |
"Ich hab´s im Griff" |
Gefühl beim Arzt |
Genervt, verwirrt, in der Verteidigung |
Gemeinsam können wir herausfinden, was los ist |
Anfallsablauf |
Einzelne Anfälle kaum unterscheidbar |
Arzt kann Schilderung nachvollziehen |
Versuche zur Anfallsunterbrechung |
Kaum, selbst auf Nachfrage |
Auf Nachfrage oft, manchmal sogar spontan |
Eigen-und Fremdwahrnehmung |
Schilderungen gehen durcheinander |
Trennung: Dieses habe ich selbst erlebt, dieses nur gehört |
Spontane Schilderung |
Weg vom Bewusstsein |
Hin zum Bewusstsein |
PatientInnen mit organischen Ursachen (Epilepsie) suchen Struktur. Ob einem Anfall eine organische Ursache oder eine dissoziative zugrunde liege, bekomme man deshalb nur über freies Reden der PatientInnen heraus (s.d. Opp J, et al: Hypothesen zur Genese dissoziativer Anfälle anhand der Anfallsschilderung, Zeitschrift für Epileptologie, 2017).
Opp berichtete von einem Mädchen mit Kopfschmerzen. Verzichten sollte man auf geschlossene Fragen wie: "Du hast Kopfschmerzen" und stattdessen fragen: "Was ist los?" Im Gespräch sollte man nur das aufgreifen, was die Patientin auch erzählt. Sie berichtete, dass "Bälle" auf sie zuflogen und malte dann diese "Bälle". Im EEG zeigten sich mehrfache okzipitale Anfallsmuster, Diagnose: Benigne Okzipitallappen-Epilepsie. Eine andere Patientin hatte sich an Wassereis verschluckt und behielt danach ein Globusgefühl bei. Durch freies Reden ließ sich herausfinden, dass die Patientin das Gefühl kennt: Es taucht immer dann auf, wenn das Mädchen von ihrem Vater angebrüllt wird.
Es dauert im Schnitt sieben Jahre, bis eine dissoziative Störung diagnostiziert wird. PatientInnen erzählen von einem Epilepsie-Anfall viel plastischer und anschaulicher.
Wie Opp berichtet, deuten spezielle Begriffe schon in der Anamnese darauf hin, dass es sich um einen dissoziativen Anfall handelt:
Dissoziativ |
Epileptisch |
|
Relevantsetzung |
"Ich kipp einfach weg" |
"Ich hab´s im Griff" |
Häufige Worte |
"Immer", "nie", "ich weiß nix" |
"unbeschreibbar" |
Anfallsablauf |
Kaum nachvollziehbar |
Gute Story, Konturierung der Lücke |
Anfallserleben |
- |
Zumindest auf Nachfrage |
Konsistenz |
Logische Brüche |
Logische Abfolge |
Ursache der Anfälle |
Kein Thema |
PatientIn fragt selbst danach |
Spontane Schilderung |
Weg vom Bewusstsein |
Hin zum Bewusstsein |
Referenzen:
115. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft Kinder-und Jugendmedizin Kongresszentrum München 2019