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MS-Zwilling sorgt für individualisierte Therapie

Die Multiple Sklerose gilt als Krankheit mit den tausend Gesichtern. Entsprechend vielfältig sind die Herausforderungen an Diagnostik und Therapie.

Interview mit Prof. Dr. Tjalf Ziemssen

esanum: Prof. Ziemssen, Ihr Spezialgebiet ist die Multiple Sklerose, was hat sich zuletzt in Forschung und Versorgung getan?

Prof. Ziemssen: Wir haben immer mehr therapeutische Möglichkeiten. Doch viele dieser Innovationen kommen in der Versorgung nur unzureichend an – sodass eine personalisierte bestmögliche Therapie, wie wir sie uns wünschen, nicht wirklich funktioniert. Denn dafür muss ich den Patienten sehr gut charakterisieren. Jede MS ist anders. Daher ist jeder Patient granulärer zu betrachten. Das ist vergleichbar mit der Entwicklung in der Leukämiebehandlung. Da haben wir inzwischen 120 Subtypen, die alle unterschiedlich zu behandeln sind. Entsprechend viel besser werden die Ergebnisse.

esanum: Warum wird das denn bei der MS nicht getan?

Prof. Ziemssen: Es ist richtig aufwändig, die MS-Subtypen herauszuarbeiten. Wenn man sich dann die übliche Patientenkontakt-Zeit vor Augen führt, und weiß, dass bei den wenigsten Patienten die neurologische Funktion gemessen wird, dann liegt das Problem auf der Hand. Mit einem einfachen Gespräch und einem gelegentlichen MRT kommt man da nicht weiter.

esanum: Was muss stattdessen gemacht werden?

Prof. Ziemssen: Man muss die gesamten Prozesse optimieren, muss z.B. ein reproduzierbares, quantitativ auswertbares MRT machen, den Patienten digitale Tests machen lassen, bei denen unterschiedliche Funktionen charakterisiert werden und natürlich Blutparameter systematisch analysieren.

esanum: Kann man als MS-Patient nicht erwarten, dass einem alle aktuellen Möglichkeiten der Medizin zuteilwerden?

Prof. Ziemssen: Das ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis - solange es zu wenig Zeit gibt und bestimmte Dinge bei den Neurologen nicht gut bezahlt werden.

esanum: Sie wollen daran offensichtlich etwas ändern, denn Sie sprechen auf dem BBS zum Thema: Patientenzentrierte Outcome-Parameter der Multiplen Sklerose-Behandlung - was zählt wirklich für den Patienten? Welches sind Ihre Hauptbotschaften?

Prof. Ziemssen: Wir arbeiten in unserem Zentrum am Konstrukt eines digitalen MS-Zwillings. Wir charakterisieren den Patienten, stellen die unterschiedlichen individuellen Defizite und Symptome fest - die Erkrankung hat ja tausend Gesichter. Wir ordnen den Patienten mit einer Sprechstörung dem Logopäden zu, ein anderer mit Handproblemen muss zum Ergotherapeuten, wieder andere brauchen eine an klinischen Pfaden optimierte Spastiktherapie. Wenn wir das und vieles mehr systematisieren und den Patienten charakterisieren, kommen wir zu einer individualisierten Therapie.

esanum: Was bedeutet das für die Erkrankten?

Prof. Ziemssen: Wir beschreiben die individuelle MS granulärer und aus diesen granulären Informationen folgen klare Auswirkungen für den Patienten – indem wir uns direkt der Besserung der erkannten Probleme zuwenden. Und um besser zu den Ärzten durchzudringen, machen wir es dem Patienten möglich, die Qualität seiner Versorgung, die Entwicklung von Symptomen selbst festzustellen und damit auch zu beurteilen, ob er sich gut behandelt fühlt oder ob er sich vielleicht ein anderes Zentrum suchen muss.

esanum: Wie funktioniert das?

Prof. Ziemssen: Der Patient hat ein Portal, auf dem er mit am digitalen MS Zwilling arbeitet und an den Daten teilhaben kann. Dadurch, dass wir sehr symptomorientiert vorgehen, kann der Patient sehen, wenn etwas besser läuft - zum Beispiel nach einem Training. So sieht der Patient den direkten Benefit.

esanum: Vor welchen Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen steht die Versorgung von Patienten mit MS?

Prof. Ziemssen: Das Problem ist, dass die Versorgung immer komplexer und spezialisierter wird und man sich Gedanken machen muss, bis wohin der Allgemeinneurologe versorgen kann und wann die Kompetenz eines spezialisierten Zentrums hinzukommen sollte. Oder wie er sich durch ein Netzwerk Expertise einholen kann. Die Frage ist auch: wie schaffen wir es, dass bestimmte Patienten nicht abgehängt werden von den Möglichkeiten, die es inzwischen gibt? Es geht eben nicht nur um das Verordnen von neuen Medikamenten, sondern um die genaue, frühzeitige Indikationsstellung. Es geht nicht so sehr um das Überleben wie etwa bei onkologischen Patienten, aber die Frage, wie viel Behinderung der Patient entwickelt – also ob er zehn Jahre eher im Rollstuhl landet oder eben erst später, das ist schon ganz entscheidend für den Einzelnen.

esanum: Was ist hier besonders relevant für die Hausarztpraxis, beziehungsweise die niedergelassenen Fachärzte?

Prof. Ziemssen: Das Screening, das wir auch für den Patienten entwickelt haben, kann natürlich auch der Hausarzt machen. Und es ist sehr wichtig, dass er erkennt, wann Dinge nicht gut laufen. Der Hausarzt ist ein entscheidender Player, wenn er gegebenenfalls den Hinweis gibt: wenden Sie sich besser an ein spezialisiertes Zentrum. Der Hausarzt kann durchaus erkennen, ob sein Patient vom Neurologen gut geführt wird. Bei Versorgungslücken ist der Hausarzt idealerweise Lotse, der seine Patienten zum MS-Zentrum weiterschickt.

esanum: Was erwarten Sie vom diesjährigen BBS? Worauf freuen Sie sich besonders?

Prof. Ziemssen: Ich war schon mehrmals dabei. Und jetzt nach der Covidzeit, in der wir alle digitaler Meetings überdrüssig sind, lechzen wir danach, uns mal wieder live zu treffen, um bei den Referenten direkt und persönlich nachfragen zu können, um sich abzustimmen, auszutauschen. Das ist persönlich dann doch etwas anderes. Der Summit mit seinen sehr unterschiedlichen Themen ist immer herausragend und toll organisiert.