Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Leiter der Klinik für Neurologie der Universitätsklinik Essen, berichtet auf dem 92. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie von den Erfahrungen der Uniklinik Essen bei der Behandlung erwachsener Patientinnen und Patienten mit Spinaler Muskelatrophie (SMA) mit Nusinersen.
Zunächst gibt der Referent einen Einblick in die SMA, die unter den seltenen Erkrankungen eine der häufigen ist. SMA ist eine schwere neurodegenerative Erkrankung, die häufigste erbliche Erkrankung im Kindes- und Jugendalter, die zum Tod führt. Bei Neugeborenen beträgt die Inzidenz 1:10.000.
Ursache ist der Verlust von SMN-Gen 1 und SMN-Gen 2, die ein Protein produzieren, welches essentiell ist, damit Nervenzellen von Mutterneuronen reifen und überleben können. Die Mutterneurone gehen sukzessive zugrunde. Betroffene Kinder erreichen bestimmte Meilensteine nicht, wie Kopfheben, Drehen, Sitzen, Stehen, Laufen.
Das von der FDA (2016) und der Ema (2017) zugelassene Nusinersen stellt die Fähigkeit des SMN 2-Gens wieder her, SMN Protein zu produzieren - und ist damit ein einzigartiger Wirkmechanismus. Vorstudien zeigten, dass man so die Expression von dem SMN-Protein erhöhen kann.
Die Neurologie in Essen behandelt seit der Zulassung mit dem Präparat Nusinersen und verfügt über umfangreiche Erfahrungen. Hat man Kindern das Medikament sehr früh verabreicht, haben sie bestimmte Meilensteine erreicht, teilweise auch vollständig, berichtet Prof. Kleinschnitz. Wie immer in der Medizin, gibt es PatientInnen, die besser oder schlechter ansprechen. Aber der Effekt sei teilweise dramatisch. Dabei zeigt sich: Je früher therapiert wird, desto besser ist der Effekt. Eine Frage, die sich ergibt: Müsste man nicht ein genetisches Screening durchführen, um die Kinder bei der Geburt zu identifizieren, damit man schnell mit der Therapie anfangen kann?
Die NeurologInnen der Uniklinik Essen haben sich nun auf das Erwachsenenkollektiv fokussiert. Nusinersen ist zugelassen für alle Formen der SMA, unabhängig von Typ und Alter. Aber hier ist die Lage komplizierter. Denn die PatientInnen haben die Erkrankung teilweise schon viele Jahre, haben körperliche Behinderungen. Die Evidenz für die Wirksamkeit bei Erwachsenen stand noch aus.
Prof. Kleinschnitz betont, es zeigte sich schnell nach Beginn des Programms, dass PatientInnen sehr weite Wege auf sich nehmen, um die Therapie zu bekommen. Um das Vorgehen abzustimmen, trafen sich Anfang Februar Vertreter interessierter neuromuskulärer Zentren zu einem Workshop - diese Gruppe kann auf ein Kollektiv von 160 PatientInnen blicken, die mit Nusinersen behandelt werden.
Nach ihrem allgemeinen Eindruck befragt, zeigte sich, dass die meisten der SMA-Patienten tatsächlich profitieren. Der Effekt hängt weniger vom Alter oder der Erkrankungshistorie ab, wichtig ist der Disability-Satus vor Behandlungsbeginn. PatientInnen mit Restfunktionen, die zum Beispiel laufen können oder auch im Rollstuhl die oberen Extremitäten bewegen können, sprechen besser an als jene, die schwerer geschädigt waren.
Zunächst diskutierten die ExpertInnen das Thema Aufklärung. Was sagen wir den Patientinnen und Patienten? Wir haben eine Therapie, die Gendefekte repariert und sie kommt zu einem hohen Preis, mit hohem Aufwand, mit intrathekalen Injektionen - wie kommuniziert man da realistische Therapieerwartungen? Die PatientInnen gut aufzuklären, sei ultimativ wichtig, da herrscht Konsens. Ein Ziel ist demnach auf jeden Fall der Erhalt des Status quo.
Konsens ist auch: wenn so früh wie möglich behandelt wird, ist der Effekt am ausgeprägtesten. Die Verbesserung motorischer Funktionen wird generell beobachtet, das drückt sich besonders in alltagsrelevanten Dingen aus. Dazu gehören: Besser Aufstehen aus dem Rollstuhl, besser Treppensteigen, gefestigter Stand, stärkere Handmuskulatur, gebesserte Fatique. Doch die beobachteten Ergebnisse sollten skaliert werden. Für die adulten PatientInnen werden dazu dieselben Scores angewendet, wie beim neuropädiatrischen Kollektiv.
Insgesamt schätzt der Referent diese Start-Kriterien als leicht erfüllbar ein.
Die Verantwortung ist hoch, erklärt der Referent: die Therapie ist invasiv und sie ist teuer. Bevor eine Entscheidung zum Therapieende getroffen wird, sollte aber mindestens ein Jahr therapiert werden, um die Effekte abschätzen zu können. Natürlich endet die Therapie jederzeit, wenn die Patientin oder der Patient das möchte oder wenn es zu Komplikationen kommt. Letzteres war in Essen nicht der Fall.
Um das Outcome zu messen, wurden deutsche und europäische Register einbezogen, unter anderem das Smartcare-Register.
Folgende Standards wurden festgelegt:
In späteren Phasen sollen weitere Kriterien wie die Lebensqualität aufgenommen werden. Nachgedacht wird auch darüber, wie künftig die Entwicklung technisch besser erfasst werden kann, beispielsweise mit Wearables.
Zehn neuromuskuläre Zentren haben ihre Datenbanken der Essener angeglichen - und kamen zu den gleichen Ergebnissen für ein Kollektiv von über 100 PatientInnen.
Der Referent erwartet in der nächsten zehn, zwanzig Jahren ein Feuerwerk innovativer Therapien.
Die Therapieziele in der Behandlung der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie (5q-SMA) sind je nach Ausprägung der Erkrankung und Lebensalter unterschiedlich. Die adulte Form der SMA verläuft meist wesentlich langsamer als die früh einsetzende, infantile SMA, welche unbehandelt potenziell lebensbedrohlich ist. Dennoch ist der Krankheitsverlauf auch bei erwachsenen PatientInnen progredient und kann zu fortschreitenden, motorischen Defiziten führen. Ein wichtiges Ziel der Therapie ist daher, möglichst viele der vorhandenen motorischen Funktionen zu erhalten oder zu verbessern. Durch den Einsatz von Nusinersen kann der Verlauf sowohl bei Säuglingen und Kleinkindern als auch bei Jugendlichen und Erwachsenen positiv beeinflusst werden, erläuterten ExpertInnen auf dem Symposium beim 92. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
Quelle:
DGN-Kongress, 27.9.2019, Prof. Dr. Kleinschnitz