Bis wann macht eine tumorspezifische Therapie Sinn? In welchen Fällen sollte nach Biomarkern gefahndet werden? Was gehört zu einer rationalen und suffizienten, aber eben nicht überzogenen Nachsorge? Während sich die Onkologie gerade rasant entwickelt, müssen Fragen wie diese tagtäglich von Ärzten entschieden und verantwortet werden. Um bei den immer komplexer werdenden diagnostischen und therapeutischen Optionen den Überblick zu bewahren und Fehlversorgung zu vermeiden, hat die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) im letzten Jahr evidenz-basierte Handlungsempfehlungen erarbeitet.
Dieser im Rahmen der Initiative "Klug entscheiden" der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) veröffentlichte 10-Punkte-Plan soll diejenigen Maßnahmen adressieren, die zum einen zu häufig vorgenommen werden – obwohl nachweislich überflüssig oder sogar schädlich – und zum anderen solche, die oft unterlassen werden – obwohl wissenschaftlich belegt und zum Wohle der Patienten wünschenswert.
Die Empfehlungen wurden auf Basis einer Online-Umfrage unter den DGHO-Mitgliedern und nach sorgfältiger Evaluierung durch den Vorstand und einer eigens gegründeten Arbeitsgruppe entwickelt. Aus den insgesamt 492 Einsendungen wurden schließlich 10 Aspekte konsentiert, nach eindeutiger Studienlage oder – wo, wie in der Geriatrie oder Palliativmedizin nicht immer Studien vorlagen – zumindest nach leitlinien-basiertem Expertenrat.
Ziel dieser Qualitätsoffensive war es, konkrete Hilfe bei der Indikationsstellung zu bieten und ein verstärktes Bewusstsein dafür zu schaffen, dass nicht alles medizinisch Machbare auch nutzbringend ist. Die Kampagne war explizit nicht ökonomisch motiviert, erhob keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und erkannte selbstverständlich die individuelle, im Einzelfall auch gegenteilige Entscheidung an.
Wer sie noch nicht kennt – nachfolgend die 2 x 5 Empfehlungen in der Kurzform, wie sie von Prof. Stefan Krause, Mitglied der Konsensuskommission DGHO, im Deutschen Ärzteblatt zusammengefasst wurden, wo sie auch noch ausführlicher erläutert werden:
Unterm Strich zeigen die Vorschläge eine klare Tendenz für einen sensibleren Umgang mit technischen Maßnahmen und ein Plädoyer für eine stärker "sprechende Medizin".
Ursprünglich war die Idee inspiriert von der "choosing wisely"-Initiative der American Board of Internal Medicine Foundation. 2012, gestartet wurde sie zunächst in Kanada, dann auch in mehreren anderen Ländern übernommen und entwickelt – in Deutschland auch noch um eine separate Positiv-Liste erweitert.
30 Prozent der US-Gesundheitsausgaben gelten nach offiziellen Daten als weitgehend vergeudet – da sie keinerlei Nutzen hinsichtlich der Lebensverlängerung oder der Linderung von Leid bewirken.
Auch aus diesen Gründen war es das ausdrückliche Ziel der US-amerikanischen Wissenschaftler, die Versorgungsqualität zu verbessern, in dem die bisherigen Gewohnheiten stärker hinterfragt werden sollten.
Doch wie effektiv ist solch ein Vorhaben tatsächlich? So ehrenwert das Anliegen auch ist – reicht die bloße Identifizierung der Problemstellen, um tatsächlich eine Reduktion von redundanten Praktiken zu bewirken?
Erste Auswertungen der "Choosing wisely"-Offensive liegen bereits vor und wurden im JAMA Internal Medicine vorgestellt: Danach konnte bisher nur bei 2 von 7 der kritisierten Maßnahmen eine signifikante Abnahme registriert werden – bei 4 von 7 gab es leichte statistische Tendenzen nach unten.
Immerhin – könnte man sagen, schließlich geht es ja auch um Erlöse, auf die die Ärzte teilweise verzichten. Doch kann man sich auch fragen, ob die Initiative nicht erfolgreicher sein könnte und welches die Gründe sind, die Mediziner von der mutmaßlich stimmigeren Wahl abhalten.
Die US-National Academies of Sciences, Engineering and Medicine fanden hier diverse Ursachen, beispielsweise Angst vor juristischen Konsequenzen bei Unterlassung, veraltetes Wissen, Routine, Zeitmangel, Unsicherheit sowie Vergütungsanreize.
Eine in Deutschland parallel zum "Klug entscheiden"-Aufruf laufende Befragung der DGIM-Mitglieder stellte heraus, dass 85 % insbesondere die Überversorgung – auch im eigenen Zuständigkeitsbereich – als relevantes Problem sehen. 70% gaben sogar an, mehrfach die Woche Überversorgung wahrzunehmen oder zu praktizieren, insbesondere bezüglich der Bildgebung und der Labordiagnostik. Unterversorgung wurde generell deutlich seltener bemerkt, möglicherweise ganz unbewusst.
Als Gründe für dieses "Im Zweifel mehr" wurde in 79 % die Sorge vor Behandlungsfehlern, in 63 % Erwartungshaltung oder Druck von Patienten, in 49 % die Erlöse und in 44 % die Unkenntnis der Leitlinien genannt. Gerade bei letzterem könnte man tatsächlich bemängeln, dass diese oft extrem lang und sperrig sind – und eine Verschlankung oder besser eine künftige Kombination mit eben solchen sehr eingehenden, praxisnahen Empfehlungen ideal wäre.
Soll eine solche Initiative wirklich nachhaltig Erfolg haben, müssen unbedingt auch die Patienten mit ins Boot geholt werden. Idealerweise sollte die Kommunikation transparent und seriös sein und dem Erkrankten klarmachen, dass auch das Weglassen einer Maßnahme in seinem besten Interesse sein kann – ansonsten wird er sich seine "ihm zustehenden Leistungen" vielleicht schon beim nächsten Arzt holen.
Zudem erfordert es auch Mut, zuzugeben, dass das Tabuthema Fehlversorgung oft auch ein eigenes Problem ist. Und häufig ist es einfach auch leichter, einem forderndem Patienten das zu geben, was er möchte, statt zeitraubende Debatten zu führen.
Letztlich braucht es hier auch eine öffentliche Diskussionen aller im Gesundheitswesen Beteiligter, inklusive Entscheidungs- und Kostenträger. Diesbezüglich plädiert Prof. Ina Kopp, Leiterin des AWMF-Instituts für Medizinisches Wissensmanagement: "Wir brauchen die Unterstützung der Krankenkassen und der Politik. Denn ein Gesundheitssystem, das sich kontinuierlich an dem bemisst, was dem Patienten tatsächlich hilft und daraus lernt, ist zukunftsfähig, effektiv und effizient und human."
Wirklich verwunderlich ist es jedenfalls nicht, dass Veränderungen hier so zäh sind. Unser Medizinbetrieb ist auf Hochleistung und Handeln ausgelegt. Unterstützt wird dabei nicht unbedingt immer das Sinnvolle: weder das Gespräch noch das Abwägen – und schon gar nicht der Verzicht.
QUELLEN: Klug entscheiden: . . . in der Hämatologie und Medizinischen Onkologie. Dtsch Arztebl 2016; 113(38): A-1650 / B-1391 / C-1367, Krause Stefan et al.
MEDIZINREPORT :Initiative „Klug entscheiden“: Gegen Unter- und Überversorgung. Dtsch Arztebl 2016; 113(13): A-600 / B-506 / C-502, Hasenfuß G. et al.
Mitgliederbefragung zu „Klug Entscheiden“: Wie Internisten das Problem von Über- und Unterversorgung werten. Dtsch Arztebl 2016; 113(13): A-604 / B-510 / C-506, Fölsch U et al.
JAMA Intern Med. 2015 Dec;175(12):1913-20. doi: 10.1001/jamainternmed.2015.5441. Early Trends Among Seven Recommendations From the Choosing Wisely Campaign. Rosenberg A et al.