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Die Balance finden: zu viel oder zu wenig Screening?

20% der häufigen Neoplasien sind das Resultat von Überdiagnostizierung. Dies ergab eine australische Studie, die Daten des nationalen Gesundheitssystems aus mehr als 30 Jahren auswertete.

20% der häufigen Neoplasien sind das Resultat von Überdiagnostizierung. Dies ergab eine australische Studie, die Daten des nationalen Gesundheitssystems aus mehr als 30 Jahren auswertete.

Am 4. Februar 2020 ist Weltkrebstag (dieses Jahr übrigens zum 20. Male) – ein wichtiger Tag, der im Zeichen der Verbesserung des Bewusstseins für die Prävention, Erkennung und Behandlung von Krebs steht. In dem Bestreben, Krebs früh zu erkennen und zu therapieren, kaufen wir leider auch eine Kehrseite mit ein: Überdiagnostizierung und Übertherapie. Es gibt hierzu diverse Veröffentlichungen von Schätzungen aus Screening-Programmen in der Bevölkerung, doch nun wurde das Risiko für Überdiagnostizierung erstmals bei fünf häufigen Tumorentitäten durch eine große Studie quantifiziert: die Autoren einer Ende Dezember 2019 publizierten Analyse schätzen, dass dies auf 18% aller bei Frauen und 24% aller bei Männern diagnostizierten Neoplasien (11 respektive 18 Tsd. Diagnosen jährlich) zutrifft.1,2

Bedeutendes Problem, das dringende Änderungen erfordert

Überdiagnose ist definiert als Diagnosestellung von Krebs bei Menschen, die ohne Erkennung und Therapie keine Symptome oder Schaden davongetragen hätten.
Unter Zuhilfenahme von Auswertungen zur Entwicklung des Lebenszeitrisikos für verschiedene Krebsarten schätzt die australische Studie, dass Überdiagnosen im Jahr 2012 bei Frauen 22% der Brustkrebs-, 58% der Nierenkrebs-, 73% der Schilddrüsenkrebs- und 54% der Melanom-Fälle ausmachten. Bei Männern waren es 42% der Prostatakrebs-, 42% der Nierenkrebs-, 73% der Schilddrüsenkrebs- und 58% der Melanom-Diagnosen.

Die Gründe für Überdiagnostizierung variieren je nach Tumorentität.
"Das Problem ist, dass manche Screeninguntersuchungen abnormale Zellen feststellen, die wie Krebs aussehen, sich aber nicht wie Krebs verhalten", sagt Erstautor Prof. Paul Glasziou, Leiter des Institute for Evidence‐Based Healthcare, Bond University, Queensland, Australien.
Beim Brustkrebs spielt laut den Autoren vorrangig das landesweite Screening-Programm eine Rolle und bei Prostata- und Hautkrebs das "opportunistische, aber großflächige" Screening. Überdiagnostizierte renale Neoplasien werden meist im Rahmen abdomineller Bildgebung entdeckt und auch ein Teil der zu viel diagnostizierten Schilddrüsen-Malignome entfällt auf solche Inzidentalome, ein anderer Teil auf die übermäßige Auswertung von Schilddrüsenfunktionstests.1,2

Früher ist nicht immer besser

Die Autoren wollen damit keineswegs nahelegen, dass wir in puncto Screening und Früherkennung inaktiv werden sollten. Auch erkennen sie an, dass sich Überdiagnostizierung nicht völlig eliminieren lassen wird. Aber die Daten sprechen dafür, dass Verbesserungsbedarf besteht. "Das Problem zu reduzieren, ist nicht einfach, da einige Arten von Screening wichtig sind." Auch die Allgemeinbevölkerung ist sich der Möglichkeiten und Grenzen von Diagnostik- und Screeningverfahren relativ wenig bewusst.
Wenn wir uns noch einmal für einen Moment die Zahlen beim Schilddrüsenkrebs vergegenwärtigen: 3 von 4 gesunden Personen waren unnötig immenser psychischer Belastung und Therapien ausgesetzt, und denken, dass sie Krebs hatten und nun geheilt sind. Prof. Glasziou führt aus: "Das Screening hat oft nur bescheidenen Nutzen und muss gegen diverse Risiken abgewogen werden."

Vielleicht liegt das Problem weniger im Screening, als im Umgang mit auffälligen Befunden

Eine Verbesserung ließe sich sicherlich dadurch erzielen, Krebsvorstufen oder frühe Stadien besser zu definieren und das weitere Management strenger danach zu richten. In unserem Beitrag Sollten wir über eine andere Bezeichnung für "Low-Risk-Tumoren" nachdenken? ging es um genau dies.
Bspw. sind Brustkrebs- oder Hautkrebs-Screening nützlich, solange sie nicht in einer regelhaften operativen "Therapie" indolenter Läsionen münden, bei denen ein watchful waiting möglich gewesen wäre.
Anfang 2019 veröffentlichte britische Krebsstatistiken zeigen sehr hohe Überlebensraten für diese Tumorarten, was ein Anzeichen wahrscheinlicher Überdiagnostizierung ist: das 5‑Jahres-Überleben für Brustkrebs im Tumorstadium I betrug 99%, für Prostatakrebs im Stadium I 100%, für Melanome im Stadium I 100%, für Nierenkrebs im Stadium I 89%  und  für Schilddrüsenkrebs jedweden Stadiums 88%.3

Auch hält Prof. Glasziou Änderungen der gängigen Praxis und der Empfehlungen dazu, wie gescreent werden sollte, für angezeigt. Dies könnte bspw. beinhalten, Screeninguntersuchungen für bestimmte Neoplasien auf gefährdete Personengruppen zu begrenzen, anstatt ganze Populationen zu screenen.

Referenzen:
1. ‘Overdiagnosis’ in About 20% of Common Cancers. Medscape http://www.medscape.com/viewarticle/924550.
2. Glasziou, P. P., Jones, M. A., Pathirana, T., Barratt, A. L. & Bell, K. J. Estimating the magnitude of cancer overdiagnosis in Australia. Medical Journal of Australia n/a, (2019).
3. Cancer survival in England: national estimates for patients followed up to 2017 - Office for National Statistics. https://www.ons.gov.uk/releases/cancersurvivalinenglandadultstageatdiagnosisandchildhoodpatientsfollowedupto2017.