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Der Schein trügt...

Eine 46-jährige Patientin ohne psychiatrische Vorgeschichte wird aufgrund massiven selbstverletzenden Verhaltens an eine psychiatrische Universitätsklinik überwiesen. Diverse Interventionen und Medikamente sind wirkungslos. Ein psychiatrischer Fall – der keiner ist.

Eine 46-jährige Patientin ohne psychiatrische Vorgeschichte wird aufgrund massiven selbstverletzenden Verhaltens an eine psychiatrische Universitätsklinik überwiesen. Diverse Interventionen und Medikamente sind wirkungslos. Ein psychiatrischer Fall – der keiner ist.

Als die 46-jährige Patientin an die Abteilung für Psychiatrie einer japanischen Uniklinik überwiesen wurde, hatte sie bereits schlimme Monate hinter sich. Drei Monate zuvor war sie von ihrer Arbeitsstelle entlassen worden und es war um diese Zeit, dass ein repetitives, selbstverletzendes Verhalten begann. Dieses umfasste unter anderem das Aufschneiden ihrer Handgelenke, das Strangulieren ihres Halses mit einem Seil und das Schlagen ihres Kopfes gegen eine Kommode.
Sie schilderte, dass ihr selbstverletzendes Verhalten durch starke Ängste ausgelöst werde und dass nur die dadurch herbeigeführten Schmerzen sie von der mit den starken Angstgefühlen verbundenen Unruhe entlasten könnten.

Die Lage verschlechtert sich

Es bestanden keine psychiatrischen Auffälligkeiten in der Vorgeschichte. Die einzige bekannte Vorerkrankung war ein Diabetes mellitus seit drei Jahren.
Bei Aufnahme in die psychiatrische Uniklinik lag der Blutdruck bei 138/88 mmHg, aber in den vergangenen vier Monaten hatte er systolisch zwei Mal 200 mmHg erreicht.
Das Labor war – bis auf eine Hyperglykämie (Nüchternblutzucker 10,7 mmol/l = 193 mg/dl) – unauffällig, einschließlich Differentialblutbild, Leber-, Nieren- und Schilddrüsenwerten. 

Zwei Jahre zuvor, nach Einleitung eines Scheidungsverfahrens, hatte sie Energiemangel, ängstliche Unruhe und Überempfindlichkeit gegenüber Umgebungsgeräuschen entwickelt. Eine kommunale Klinik verschrieb ihr damals Anxiolytika und Paroxetin, aber ihre Symptome verschlimmerten sich. Nach dieser Anamnese gingen auch die neuen betreuenden Ärzte von einer Anpassungsstörung aus und verordneten nacheinander Anxiolytika, Antidepressiva, Stimmungsstabilisierer, Antipsychotika und Psychotherapie. Doch die Patientin verletzte sich weiterhin selbst, inzwischen fast täglich. Zwischen diesen Episoden allerdings wurden keine Ängste oder damit verbundene Verhaltensweisen berichtet.

Angst ist eines der häufigsten Symptome welches Tumors?

Wiederum drei Monate später wurde unsere Patientin mit heftigem Erbrechen ins Krankenhaus eingeliefert. Sie war ketoazidotisch mit einem Blutglukosespiegel von 15,5 mmol/l (279 mg/dl) und einem Ketongehalt von 1.647 μmol/l.
Nach der Aufnahme kam es häufig zu hypertensiven Episoden, mit Blutdrücken bis zu 200/110 mmHg. 

Genauere Abklärung offenbarte ein exzessiv erhöhtes Norepinephrin im Urin von 22.775 nmol/Tag (Referenzwert 287–996), Normetanephrin im Urin von 60.060 nmol/Tag (491–1802) und Norepinephrin im Plasma von 78,2 nmol/L (0,6–2,7). 

Im daraufhin angefertigten CT des Abdomens kam eine 8,7×8,8×7,3 cm messende Raumforderung der linken Nebenniere mit peripherem Enhancement und einer zentralen Dichteminderung zur Darstellung.
Die MIBG-Szintigraphie zeigte eine erhöhte Aufnahme in der linken Nebenniere ohne Anzeichen für eine abnormale extraadrenale Anreicherung.

Insgesamt vier Monate nach Erstvorstellung in der psychiatrischen Uniklinik wurde der Tumor laparoskopisch entfernt und histologisch die Diagnose eines Phäochromozytoms bestätigt. Nach dem Eingriff normalisierten sich ihr Blutzuckerspiegel, Blutdruck, Norepinehphrin-Level. Auch ihr psychischer Zustand stabilisierte sich und in der Nachsorgezeit von einem knappen Jahr traten keine Angstattacken und kein selbstverletzendes Verhalten mehr auf.

Grundsätzlich muss bei allen Patienten mit einer schwer einstellbaren Hypertonie an eine sekundäre Hypertonieform und im Rahmen dessen an ein Phäochromozytom gedacht werden (weitere wichtige Differentialdiagnosen wären Hyperthyreose, Nierenarterienstenose, Hypercortisolismus, Conn-Syndrom, Angsterkrankungen, Einnahme von MAO-Hemmern, Kopfschmerzen anderer Genese, Alkoholentzugssymptomatik sowie auch abruptes Absetzen einer Clonidin Therapie).1

Take away: Ängste treten im Zusammenhang mit diversen organischen Erkrankungen auf

Es gibt immer wieder Fälle von klinisch kryptisch verlaufenden Phäochromozytomen.
Nach der Trias von klassischen Leitsymptomen (Kopfschmerz, Schwitzen und Palpitationen/ Tachykardie) sind Ängste die vierthäufigste Manifestation eines Phäochromozytoms, die bei etwa 30% der Patienten auftritt.2
Während der hypertensiven Krisen, die durch eine episodische Sekretion von Katecholaminen verursacht werden, kann es zu ausgeprägten Angstzuständen bis hin zu Todesangst und Untergangsstimmung kommen.

Bei dieser Patientin hatten Anamnese und Lebensumstände die Vermutung entstehen lassen, dass ihre führende Symptomatik mit einer Überlastung und sozialen Stressfaktoren in Zusammenhang stehe. Da die Angstattacken aber mit Entfernung des Tumors verschwanden, lässt sich rückblickend konstatieren, dass diese vorrangig dem Phäochromozytom zuzuschreiben waren.
Die im Vergleich zu anderen Kasuistiken bei dieser Patientin besonders hohen Norepinephrin-Spiegel könnten erklären, warum sie solche intensiven Ängste erlebte.

Selbstverletzung ist eine ungewöhnliche Art der Angstbewältigung bei primären Angststörungen, meinen die Autoren des Fallberichtes. Ein interessanter Punkt, den sie hervorheben: Paroxetin, welches die Patientin vor Beginn ihres Selbstverletzens erhalten hatte, könnte ihr Phäochromozytom exazerbiert haben. Generell können selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer hypertensive Krisen auslösen.

Die Botschaft, welche die Autoren der Kasuistik am Ende stehen lassen möchten: organische Ursachen sollten in Betracht gezogen und abgeklärt werden, wenn psychiatrische Symptome atypisch sind und auf konventionelle Therapien nicht ansprechen.3,4

Referenzen:
1. Ärzteblatt, D. Ä. G., Redaktion Deutsches. Phäochromozytom: Klinik, Diagnostik und Therapie. Deutsches Ärzteblatt https://www.aerzteblatt.de/archiv/28818/Phaeochromozytom-Klinik-Diagnostik-und-Therapie (2001).
2. Mannelli, M., Ianni, L., Cilotti, A. & Conti, A. Pheochromocytoma in Italy: a multicentric retrospective study. Eur J Endocrinol 141, 619–624 (1999).
3. The Lancet Editors. Hidden harm. The Lancet 398, 1289 (2021).
4. Suzuki, M., Konno, C., Takahashi, S. & Uchiyama, M. Hidden harm. The Lancet 377, 874 (2011).