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Der Kühlschrank als Karrieremotor

Das New England Journal of Medicine pflegt eine kleine, aber feine Rubrik, die der Selbstreflexion ärztlichen Handelns dient und auf den Namen "Perspective" hört. Bei diesen "Perspektiven" geht es nicht allein um räumliche Ansichten, sondern genauer um "Aussichten" im Sinne einer auch zeitlichen Veränderung der Wahrnehmung.

Wenn Ärzte krank sind

Das New England Journal of Medicine (NEJM) pflegt eine kleine, aber feine Rubrik, die der Selbstreflexion ärztlichen Handelns dient und auf den Namen "Perspective" hört. Bei diesen "Perspektiven" geht es nicht allein um räumliche Ansichten, sondern genauer um "Aussichten" im Sinne einer auch zeitlichen Veränderung der Wahrnehmung.

Vor einigen Wochen machte sich in dieser Rubrik ein amerikanischer Psychiater Gedanken darüber, ob ihn seine Krebserkrankung zu einem besseren oder schlechteren Arzt mache.1 Im Januar 2018 war bei ihm Nierenkrebs im "Stadium 3" diagnostiziert worden. Die Prognose sei, so seine eigenen Worte, "unklar".

Der Kollege stellt in seinem Beitrag fest, dass sich seine Wahrnehmung von Patienten verändert habe. Im Umgang mit Erkrankten habe er sich früher stets auf seine Empathie verlassen. Psychopharmakologie und Neuromodulation seien zwar stets essenzielle Aspekte seines ärztlichen Wirkens gewesen. Doch habe er gute Erfahrungen damit gemacht, seiner empathischen Intuition zu folgen, sobald eine Beziehung zum Patienten erst einmal hergestellt gewesen sei.

Seit seiner eigenen Krebsdiagnose beobachte der Psychiater jedoch gelegentlich erhöhte Schwierigkeiten bei sich, sich ganz auf seine Patienten einzulassen und ihnen empathisch auf ihren Wegen zu folgen. Wiederholt mische sich seine eigene gesundheitliche Angegriffenheit wie eine Stimme aus dem Off in die Gespräche mit den Patienten ein und kommentiere, ja, relativiere die dem Arzt geschilderten Nöte. Jobverlust oder Ehescheidung? – "Aber du hast noch immer deine Gesundheit!" hört der Kollege sich denken.

Dennoch, so zeigt sich der Kollege überzeugt, beherrsche er sein professionelles Handwerkzeug so gründlich, dass die Patienten keinen Unterschied bei der Behandlung wahrnehmen würden.

Ein ungeliebter Untermieter

Natürlich, kulturelle Unterschiede sind groß und müssen berücksichtigt werden. Aber, Kultur hin oder her, der Verdacht drängt sich auf, dass nicht nur US-amerikanische Psychiater es als Ausdruck ihrer Professionalität ansehen würden, wenn ihre Patienten nichts von einer Erkrankung ihres Arztes mitbekämen.

In den Jahren 2016 und 2017 veröffentlichten Fay Smith, Michael J. Goldacre und Trevor W. Lambert drei aufschlussreiche Kohortenstudien zum britischen Gesundheitssystem NHS.2-4 Ziel aller drei Untersuchungen war es, anhand von Fragebögen Selbsteinschätzungen von Ärzten zu ihrem Beruf, ihrem beruflichen Umfeld und dem NHS zu erhalten. Dabei äußerte sich ein Teil der Examensjahrgangskohorten spontan auch zum Umgang mit eigenen akuten2 bzw. chronischen3 Erkrankungen sowie den beruflich bedingten Gesundheitsrisiken4 des Arztberufs. Die Studien waren nicht auf eine repräsentative Erfassung des ärztlichen Selbstbildes angelegt, sollten aber ein Meinungs- und Stimmungsbild innerhalb der jeweiligen Jahrgänge liefern.

Die Ergebnisse lassen sich – grob vereinfacht – auf einen Nenner bringen: Ärzte müssen sowohl aus Innen- wie aus Kollegensicht vor allem funktionieren. Rücksichtnahme auf die eigene Gesundheit stellt – bei aller Varianz der Aussagen – die Ausnahme da. Das gilt insbesondere für Akuterkrankungen, die regelmäßig und in weit gestecktem Rahmen ignoriert werden. Im Wesentlichen, um Kollegen nicht durch Mehrarbeit zu belasten.2

Rückblickend wird dieses – unter den interviewten NHS-Kollegen offenbar erwartete – Verhalten von rund 45% der befragten Ärzte als ein wichtiger Faktor für gesundheitliche Belastungen durch den Beruf beschrieben.4 Und das, obwohl dieser ungeschriebene Kodex der Arbeitsethik, mit Selbst- und Fremdgefährdung einhergeht, also im Grunde kontraproduktiv ist – und von den Betroffenen auch so wahrgenommen wird.

Ursache des Verhaltens seien, so das Fazit der Studienautoren, – neben dem bereits erwähnten selbstschädigenden Ehrenkodex – mangelnde Flexibilität und fehlende Reserven im Gesundheitssystem. Dadurch sei der Ausfall eines Arztes nur schwer zu kompensieren und gehe automatisch mit einer erhöhten Arbeitsbelastung für Kollegen einher.

Mit allen zu erwartenden Konsequenzen für die sozialen Beziehungen zwischen den Teammitgliedern. So berichten chronisch kranke oder behinderte Ärzte davon, aufgrund ihrer Einschränkungen um Entwicklungs- und Aufstiegschancen gekommen zu sein.3 Leitbild im System sei einzig und allein der mindestens für zehn Stunden täglich voll belastbare Arzt. Selbst gezielt gesuchte berufliche Beratungen wurden von chronisch kranken und behinderten Ärzten als unflexibel und wenig ergiebig beschrieben. Abweichungen von der Norm – und sei es nur bei der Suche nach besser mit den eigenen Einschränkungen vereinbaren Arbeitsplätzen – seien als anrüchig oder minderwertig bewertet worden.

Zugegeben, die Studienautoren weisen selbst darauf hin, dass ihre Befragung nicht allein die Gegenwart beschreibe, sondern stark retrospektive Komponenten enthalte, die nicht unreflektiert als aktuelle Zustandsbeschreibung gelesen werden dürften.

Und dennoch und bei allen Grenzen der Übertragbarkeit derartiger Studienergebnisse zwischen verschiedenen Gesundheitssystemen: Gehört die Frage, wie wir den Patienten in uns selbst behandeln, nicht dringend auf den Tisch?

Wie glaubhaft können Lebensstilveränderungen empfohlen werden, wenn die eigene Flexibilität auf diesem Gebiet so deutlich eingeschränkt ist? Kürzer treten, andere Lebensschwerpunkte setzen, einen Ausweg aus der täglichen Arbeitsmühle zu suchen: Wer hat das seinen Patienten noch nie empfohlen? Und selbst?

Welche Konsequenzen hätte es, die eigenen Ratschläge einmal selbst zu befolgen? Funktioniert unser Gesundheitswesen in Hinblick auf den Arbeitsanfall denn nur (noch)  mit "Maschinenmenschen"? Und was bedeutet das für die Einstellung gegenüber unseren Patienten? Steckt nicht immer noch eine große Portion "weißer Halbgott" darin, dem Patienten im Arzt zu verweigern, was wir so vielen "gewöhnlichen" Patienten empfehlen?

Und was sagt eine solche, alle objektiven Erkenntnisse zur Lebensqualität und -dauer ignorierende Haltung uns selbst gegenüber über unsere "professionelle Objektivität"? Was bedeutet es für unser Selbstverständnis als Arzt oder Ärztin, wenn der Patient in uns ein Wesen ist, dass wir als einschränkend, eingeschränkt und fragwürdig erleben? Was heißt das für unsere Haltung gegenüber anderen Menschen, die uns als Patienten begegnen? Wo ist die viel zitierte Arzt-Patienten-Partnerschaft in Bezug auf den Kranken in uns selbst?

Der gewendete Blick

Die wichtigste Frage aber könnte vielleicht eine ganz andere sein: Was entgeht uns dadurch, dass wir die Welt immer nur aus unserer ärztlichen Perspektive betrachten? Was übersehen wir womöglich, was für eine bessere Medizin vielleicht zentral sein könnte?

Ein Beispiel mag das illustrieren. Ein Beispiel, das auf dem gerade zu Ende gegangenen Kongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) für ein wenig Furore gesorgt hat. Dort wurde eine ganz simple Untersuchung als eines der Highlights des Kongresses gegenüber der Presse herausgehoben: Wie gut halten die Kühlschränke in den Haushalten von Diabetikern Insulin frisch?5

Die Ergebnisse waren überaus beunruhigend. Vielfach schädigen Haushaltskühlschränke das in ihnen gelagerte Insulin. Mit gravierenden Folgen für den Wirkstoffgehalt und die Therapie.

Und für die ärztliche Hybris? Kennen wir nicht alle Geschichten von Diabetikern, die angeben, sich genau an die Therapievorgaben und insbesondere Diätvorschriften zu halten und deren HbA1C sie lügen straft?

Nun, die Hauptautorin der Untersuchung hatte genug von den Vorhaltungen, zu denen Ärzte sich angesichts solcher "Belege" regelmäßig berechtigt fühlen. Denn als Ärztin, die sie ist, und als Diabetikerin, die sie seit Kindestagen war, weiß sie, wie strikt sie sich an ihre Therapie hält.

Als das HbA1c nicht war, wie es sein sollte, wechselte sie deshalb die Blickrichtung. Und sie sah etwas, das Ärzte in Jahrzehnten der Insulintherapie offenbar nicht angemessen als Problemquelle berücksichtigt hatten: den Kühlschrank mit ihren Insulinvorräten.

Einen Kühlschrank, der nun zum Karrieremotor für sie werden dürfte.

Quellen:
1. Stern AP. Doctoring while Sick — Is Living with Cancer Making Me a Better or Worse Doctor? N Engl J Med. 2018; 379: 1104-05. https://www.nejm.org/doi/pdf/10.1056/NEJMp1805818
2. Smith F, Goldacre MJ, Lambert TW. Working as a doctor when acutely ill: comments made by doctors responding to United Kingdom surveys. JRSM Open. 2016; 7: 2054270416635035. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/pmid/27066264/
3. Smith F, Goldacre MJ, Lambert TW. Working as a doctor when chronically ill or disabled: comments made by doctors responding to UK surveys. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/pmid/28050260/
4. Smith F, Goldacre MJ, Lambert TW. Adverse effects on health and wellbeing of working as a doctor: views of the UK medical graduates of 1974 and 1977 surveyed in 2014. J R Soc Med. 2017; 110: 198-207. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5438063/pdf/10.1177_0141076817697489.pdf
5. Braune K, et al. Storage conditions of insulin in domestic refrigerators and carried by patients: insulin is often stored outside recommended temperature range. EASD 2018, #891.