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Bereits kurze Verzögerungen in der Therapie erhöhen die Mortalität bei Krebspatienten

Eine aktuelle Metaanalyse verdeutlicht, dass selbst ein Rückstand von nur vier Wochen in der Krebstherapie die Prognose verschlechtert. Maßnahmen zur Minimierung von Wartezeiten auf Systemebene könnten das Überleben populationsweit verbessern.

Eine aktuelle Metaanalyse verdeutlicht, dass selbst ein Rückstand von nur vier Wochen in der Krebstherapie die Prognose verschlechtert. Maßnahmen zur Minimierung von Wartezeiten auf Systemebene könnten das Überleben populationsweit verbessern.

Ein vor wenigen Tagen im British Medical Journal erschienenes systematisches Review wertete Daten von 34 Studien zu 17 Indikationen aus (n = 1,3 Mio. Patienten), zu sieben häufigen Krebsarten (Blase, Mamma, Kolon, Rektum, Lunge, Zervix, Kopf und Hals) und drei Therapiemodalitäten (Operation, systemische Behandlung und Strahlentherapie).1
Diese Daten zeigten, dass ein zeitlicher Verzug des Therapiebeginns um vier Wochen mit einem erhöhten Sterblichkeitsrisiko assoziiert ist. Bei längerer Verschleppung wurde ein weiterer Anstieg der Mortalität berichtet.
So ging jede vierwöchige Verzögerung zwischen Diagnose und Operation mit einer relativen Zunahme der Gesamtsterblichkeit um 6–8% einher, entsprechende Schätzungen für die Strahlentherapie lagen je nach Indikation bei 9–23% und für die adjuvante oder neoadjuvante Chemotherapie bei 1–28%.

Konsequenzen von Therapieverzögerungen schwierig zu beziffern

Die Autoren der Metaanalyse aus Kingston, Kanada, und London reflektieren: "Die Notwendigkeit für ein eingehendes Verständnis der Auswirkungen von Therapieverzögerungen auf die Outcomes ist während der COVID-19-Pandemie stark in den Fokus gerückt. In vielen Ländern ist es zur Rückstellung elektiver Tumoroperationen und Strahlentherapien sowie zur Kürzung des Einsatzes systemischer Therapien gekommen [...]."1 Eine anlässlich des virtuellen ESMO-Kongresses vorgestellte Studie von Wissenschaftlern der Universitätsklinik Liège, Belgien, untermauerte den Einfluss auf die Onkologie mit Zahlen aus 18 Ländern: von Absagen am häufigsten betroffen waren Operationen (44,1% der Zentren), gefolgt von Chemotherapien (25,7%) und Strahlentherapie (13,7%).2 In einem Drittel der Zentren kam es zu früherer Beendigung palliativer Therapien und mehr als die Hälfte der Befragten (60,9%) gab eine reduzierte klinische Aktivität an. Mehr über diese Präsentation finden Sie in diesem Beitrag.
Erstautor Dr. Guy Jerusalem äußerte sich mit Sorge zur aktuellen Organisation der Versorgung von Krebspatienten: "Es besteht ein Risiko, dass Diagnosen neuer Krebsfälle verzögert und mehr Patienten in einem späteren Stadium ihrer Erkrankung diagnostiziert werden."3

Verschiebungen resultieren in Übersterblichkeit

Das Editorial des Lancet Oncology von November kritisiert das Vorgehen der Entscheidungsträger ebenfalls und spricht von einem verheerenden Effekt der Maßnahmen des ersten Lockdowns auf Screening, Diagnostik, Therapie und unterstützende Behandlung von Krebspatienten.4 Allein in Großbritannien haben demnach 3 Mio. Menschen Screeninguntersuchungen verpasst und zwischen April und August 2020 erfolgten im Vergleich zur selben Periode des Vorjahres 350.000 weniger Überweisungen zur Abklärung eines Tumorverdachts.

"Verspätungen bei Diagnosen und Überweisungen werden unleugbar zu überhöhter frühzeitiger Krebsmortalität führen", warnen die Verfasser. Eine exakte Quantifizierung sei unmöglich und die Folgen für die individuellen Patientenoutcomes nicht kalkulierbar. Sie schätzen jedoch, dass die Dominoeffekte in der Onkologie noch die nächsten 5–10 Jahre spürbar sein und in diesem Zeitraum mindestens 60.000 Lebensjahre verloren werden könnten.4
Tief betroffen machen auch Berichte wie dieser aus Bury, England: Vierfache Mutter stirbt, nachdem ihre Krebstherapie wegen Corona ausgesetzt wurde.

Kassenärztliche Bundesvereinigung, Berufsverbände, Ärzte und Wissenschaftler warnen ebenfalls eindringlich vor Kollateralschäden

Noch vor Beschluss des aktuellen Teil-Lockdowns erarbeitete die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) in Zusammenarbeit mit Prof. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn, und Prof. Jonas Schmidt-Chanasit, Leiter der Abteilung Arbovirologie am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg, ein "Gemeinsames Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft zur Strategieanpassung im Umgang mit der Pandemie", welches von einer langen Liste ärztlicher Berufsverbände unterstützt wird.5,6 Dieses steht über die Webseite der KBV  zur Verfügung.

Hierin fordern die Beteiligten die Politik zu einem Umdenken auf:
"[...] wir haben in den Monaten der Pandemie deutlich dazugelernt. Der Rückgang der Fallzahlen ist politisch zwar eine dringende Aufgabe, aber nicht um jeden Preis.
Wir erleben bereits die Unterlassung anderer dringlicher medizinischer Behandlungen, ernstzunehmende Nebenwirkungen bei Kindern und Jugendlichen durch soziale Deprivation und Brüche in Bildungs-und Berufsausbildungsgängen, den Niedergang ganzer Wirtschaftszweige, vieler kultureller Einrichtungen und eine zunehmende soziale Schieflage als Folge."
Auch sie sprechen sich für eine Fokussierung auf den spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen aus, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben.
"Wir berufen uns auf das grundlegende medizinisch-ethische Prinzip des ärztlichen Handelns: "primum nihil nocere" ("erstens nicht schaden"). Dieser Grundsatz auf die momentane Situation angewendet bedeutet, die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie so zu wählen, dass wir schwere Verläufe wirksam mindern, ohne neue Schäden zu verursachen."

Referenzen:
1. Hanna, T. P. et al. Mortality due to cancer treatment delay: systematic review and meta-analysis. BMJ 371, (2020).
2. Guy Jerusalem. Expected medium and long term impact of the COVID-19 outbreak in oncology. Annals of Oncology (2020) 31 (suppl_4): S1142-S1215. 10.1016/annonc/annonc325. https://oncologypro.esmo.org/meeting-resources/esmo-virtual-congress-2020/expected-medium-and-long-term-impact-of-the-covid-19-outbreak-in-oncology.
3. ESMO. COVID-19 Pandemic Halts Cancer Care and Damages Oncologists’ Wellbeing [ESMO Press Release]. https://www.esmo.org/newsroom/press-office/esmo2020-covid-pandemic-halts-cancer-care-oncologist-wellbeing.
4. Oncology, T. L. UK cancer care threatened by government incompetence. The Lancet Oncology 21, 1387 (2020).
5. Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft zur Strategieanpassung im Umgang mit der Pandemie. https://www.kbv.de/html/48910.php (2020).
6. WELT. Corona: Virologen und Ärzte stellen sich gegen Lockdown. DIE WELT https://www.welt.de/politik/deutschland/article218811510/Corona-Virologen-und-Aerzte-stellen-sich-gegen-Lockdown.html (2020).