Die Idee, Viren in die Behandlung von Krebserkrankungen einzubinden, ist nicht ganz neu. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind mehrere Fälle dokumentiert, die wundersame Phänomene schildern: Da ist der kleine leukämiekranke Junge, der sich mit Windpocken ansteckt, in deren Verlauf sich seine enorme Milzgröße und exorbitanten Leukozytenwerte auf Normalmaß reduzieren. Ebenso eine Frau Ende 40 mit Blutkrebs, die nach einer Influenza-Infektion kurzzeitig völlig symptomfrei ist. Oder eine junge Patientin mit fortgeschrittenem Zervixkarzinom, der es nach einer Tollwutimpfung deutlich besser geht...
Seit den 1950er Jahren wurden hier erste klinische Versuche mit Wildtyp-Viren unternommen, wobei diese an der hohen Infektions- und Komplikationsrate scheiterten. Erst, seit in den frühen 1990er Jahren Viren gentechnisch verändert werden konnten, war es erstmals möglich, Tumorgewebe gezielt anzugehen und dabei den Organismus weitgehend zu schonen. International folgten intensive Forschungen, die 2005 in China zu der weltweit ersten Zulassung eines veränderten Adenovirus zur Behandlung von Kopf-Hals-und Ösophagus-Tumoren führte. Und seit 2015 bzw. 2016 ist in den USA, Australien und der EU mit T-VEC (Talimogene Iaherparepvec) nun ein modifizierter Herpes-simplex-Typ1-Virus zur Therapie inoperabler maligner Melanome zugelassen. Hierbei wurde das Genom so verändert, dass es zur Immunaktivierung zusätzlich humanes Protein GM-CSF (Granulozyten-Monozyten-Kolonie-stimulierende Faktor) synthetisiert.
Die Wirkung der Viroonkologie beruht auf der spezifischen Infektion und Replikation der Viren in den Krebszellen, der damit verbundenen Induktion des Zelltods sowie der anschließenden Immunantwort auf die bei der Lyse freigesetzten Tumor-Antigene. Es findet somit ein vorteilhafter dualer Mechanismus statt: zum einen die unmittelbare Zerstörung des Malignoms, zum anderen die systemische Stimulation des Immunsystems, die im Idealfall nicht nur versprengte Tumorzellen unschädlich macht, sondern ggf. sogar vor Progression und Rezidiv schützen kann. Man könnte sagen, dass der Körper nach der initialen Injektion sein Arznei- oder Heilmittel praktisch selbst produziert. Erfreulicherweise sind auch die Nebenwirkungen dieser quasi rein biologischen Behandlung gering und äußern sich maximal in temporären Störungen wie Müdigkeit oder Rötung an der Injektionsstelle
Es trifft sich dabei gut, dass die meisten Viren offenbar eine spezielle Affinität zu Krebszellen haben. Dieser sogenannte Onkotropismus lässt die infektiösen Partikel besonders gern in Malignomen ansammeln, reproduzieren und im allerbesten Sinne aktiv werden. Eine weitere Eigenschaft, die entscheidend zum Erfolg dieses Konzepts beiträgt, ist die Tatsache, dass Krebszellen den viralen Attacken weitgehend hilflos gegenüberstehen. Im Gegensatz zu gesundem Gewebe mit intakter Immunabwehr ist hier nämlich der Interferon-Beta-Signalweg beschädigt, sodass die Viren sich hemmungslos ausleben können.
Den Virus zur tumorinternen Replikation zu bewegen, scheint also einfach. Die Herausforderung besteht eher darin, seine Aktivität in allen restlichen Körperregionen zu begrenzen. Hier gibt es zum einen die Möglichkeit, native und für Menschen harmlose Varianten wie beispielsweise die des Reovirus zu verwenden. Die andere, noch effektivere Option ist die biotechnische Genom-Modifikation, in deren Zuge die Patho- und Immunogenität fast bedarfsgerecht angepasst werden können.
Ein zentraler Aspekt ist auch, wie der Virus überhaupt in das Karzinom hinein kommt – schließlich lauert das Immunsystem ja nur darauf, eindringende Krankheitserreger unschädlich zu machen, insbesondere wenn vorher bereits eine Sensibilisierung durch Impfung oder Erregerkontakt stattfand. Die bisher erfolgreichen Studien umfassten daher auch primär die Applikation auf oder unter die Haut – was außer dermatologischen Tumoren, beispielsweise auch Sarkome, Kopf-Hals-Malignome oder Brustwandmanifestationen beim Mammakarzinom einschließt. Daneben kann die intraläsionale Verabreichung heute auch mithilfe interventioneller radiologischer Techniken punktgenau im Körperinneren erfolgen.
Aber auch die intravenöse Gabe wird derzeit intensiv erforscht. Ein Ansatz die Wahrscheinlichkeit für eine antikörperbedingte Neutralisation gering zu halten, ist die gezielte Auswahl der onkolytischen Viren. So verbreitet sich beispielsweise das Herpes-simplex-Typ1-Virus hauptsächlich über direkten Zellkontakt und zeigt wenig Neigung zur Virämie. Erste Studienergebnisse liefern Hinweise, dass diese Kausalität auch durch eine schnelle und wiederholte Hochdosis-Therapie – noch vor dem erwartbaren Anstieg des Titers – erfolgreich unterbunden werden kann.
Wie auch schon in anderen Bereichen der Immuntherapie setzen Wissenschaftler große Hoffnungen in die Kombination mehrerer Agentien und Methoden – explizit auch der Chemo- oder Radiotherapie. Hier zahlt sich aus, dass die viroonkologische Behandlung variabel, vor, nach oder zwischen anderen Regime verabreicht werden kann.
Und auch die Verbindungen mit Immuntherapeutika, allen voran den Checkpoint-Inhibitoren werden gerade mit Hochdruck geprüft. Künftig könnte damit möglicherweise eine breite Palette therapeutischer Viren und Derivate, aufgerüstet mit einer umfassenden Auswahl funktionaler Transgene zur Verfügung stehen, die in Kombination mit der passenden immunologisch aktiven Substanz bei den verschiedenen Entitäten erfolgreich wären.
Auch die Pipeline ist gut gefüllt. Erwartet werden aktuell Studien-Ergebnisse und teilweise auch Zulassungen für das Vaccinia-Virus JX-594 (Pexastimogene Devacirepvec) bei Leberkarzinom, den GM-CSF-exprimierenden Adenovirus CG0070 für Blasenkrebs, das Reolysin (Pelareorep) für Kopf-Hals-Karzinome sowie für G47∆, ein HSV-1-Variant zur Behandlung von Glioblastomen und Prostatakarzinomen. Zudem werden umkonstruierte Masernviren mit Natrium-Jodid Symporter-Funktion bzw. Expression des Carcinoembryonales Antigens CEA aktuell auf Multiple Myelome, Mesotheliome, Hirntumore sowie Ovarial- und Mammakarzinome angesetzt.
Trotz äußerst vielversprechender Beobachtungen bleibt abzuwarten, ob onkolytische Viren zu einer ähnlichen Erfolgsgeschichte wie die Checkpoint-Inhibitoren werden. Hier steht noch eine Menge Arbeit an. Und auch denkbare Spätfolgen wie Autoimmunerkrankungen müssen weiterhin im Blick behalten werden.
Trotzdem: Das äußerst kraftvolle Potential von Viren zu nutzen und dieses auch nach therapeutischen Bedürfnissen abwandeln zu können, ist schon ein genialer Schachzug. Insbesondere, wenn damit erstmals auch sehr refraktäre Malignome wie das hepatozelluläre Karzinom, das Glioblastom oder das maligne Melanom angegangen werden können.
Zuletzt ist es Forschern sogar gelungen, Viren zur Synthese von Checkpoint-Blockern umzuprogrammieren.
Man darf also gespannt sein, was die onkolytische Zukunft hier noch alles bereithält...
Quellen:
JAMA Oncol. 2017 Jun 1;3(6):841-849. doi: 10.1001/jamaoncol.2016.2064. Oncolytic Viruses in Cancer Treatment: A Review. Lawler SE et al.
Cancer Sci. 2016 Oct;107(10):1373-1379. doi: 10.1111/cas.13027. Epub 2016 Sep 9. Oncolytic virus therapy: A new era of cancer treatment at dawn. Fukuhara H et al.
Onkolytische Viren: „Medikamente“ mit Dominoeffekt. Dtsch Arztebl 2013; 110(27-28): A-1370 / B-1200 / C-1184. Gebhardt, Ulrike
Am J Clin Dermatol. 2017 Feb;18(1):1-15. doi: 10.1007/s40257-016-0238-9. Talimogene Laherparepvec (T-VEC) and Other Oncolytic Viruses for the Treatment of Melanoma. Bommareddy PK et al.