Parkinson ist inzwischen die am schnellsten zunehmende neurologische Erkrankung weltweit. Die Vorstellung, Parkinson sei primär eine Erkrankung alter, gebrechlicher Personen, ist noch immer weit verbreitet. Aktuelle Daten zeigen, dass Stigma und falsche Bilder eine nicht zu unterschätzende Rolle für Lebensqualität, Krankheitsbewältigung und sogar Verlauf spielen.
Die World Federation of Neurology (WFN) begeht immer am 22. Juli den World Brain Day, der jedes Jahr im Zeichen eines anderen Themas steht, in diesem Jahr lautete das Motto: "Move Together to End Parkinson's Disease."1 Hierfür arbeitet die WFN mit der International Parkinson and Movement Disorders Society und weiteren Interessenvertretungen auf der ganzen Welt zusammen.
Neurologische Erkrankungen sind heute die führende Ursache für Behinderung weltweit und die demographische Entwicklung bedingt eine Zunahme neurodegenerativer Erkrankungen.
Eine Erkenntnis der Global Burden of Disease Study 2016 war, dass die Erkrankungslast durch M. Parkinson sich zwischen 1996 und 2016 mehr als verdoppelt hat, von 2,5 auf 6,1 Millionen. Dieser Zuwachs ist allerdings nicht ausschließlich auf steigende Zahlen älterer Menschen zurückzuführen, denn die altersstandardisierte Prävalenz hat ebenfalls um 21,7% zugenommen. Neben der längeren Erkrankungsdauer dürften auch umweltbedingte Risikofaktoren eine wesentliche Rolle spielen.2,3
Demographische und potenziell weitere Faktoren lassen eine Fortsetzung dieses Anstieges erwarten, mit geschätzt bis zu 12 Millionen Erkrankten in der nächsten Dekade.
Obgleich Parkinson nicht als Risikofaktor für COVID‑19 gilt, sind viele Patienten von den Auswirkungen der Krise beeinträchtigt, sei es durch Einschränkungen ambulanter Dienste, Probleme in der Versorgung mit Medikamenten oder social distancing.1,4
Es ist an der Zeit, dass unsere medizinischen Bilder heutige Parkinson-Patienten widerspiegeln – jung und alt, männlich und weiblich, aktiv und geschwächt, arbeitend, berentet oder behindert und mit verschiedensten Krankheitserfahrungen
Die häufigsten Darstellungen von Parkinson basieren auf einer Skizze des Arztes Sir William Richard Gowers aus seinem Buch 'A Manual of Diseases of the Nervous System'' von 1886: alte, weiße Männer, die hinfällig, gebeugt und zittrig sind.
Zwei Neurologen wünschen sich in einem aktuellen Artikel im JAMA Neurology (Journal of the American Medical Association), dass mit diesem Bild aufgeräumt wird.5
Sie legen dar, warum Gowers Zeichnung von vor 130 Jahren keine repräsentative oder zeitgemäße Sicht dessen mehr ist, wie unterschiedlich heutige Patienten die Erkrankung erleben und wie groß die Heterogenität bezüglich der klinischen Manifestationen sein kann.
In Wirklichkeit entfällt nur ein Teil der Patienten auf das hohe Alter. In einer großen Studie waren nur 39% der Patienten der Late-onset Kategorie (über 70 Jahre) zuzuordnen. In der Hälfte (51%) der Fälle begann die Erkrankung zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr (Middle-onset) und bei 10% bereits mit unter 50 Jahren (Young-onset).6
Neuere Untersuchungen zu Subtypen offenbarten zudem, dass nur 16% von der invalidisierenden, diffus-malignen Verlaufsform betroffen sind.7 Weit häufiger sind die anderen beiden von den Autoren verwendeten Kategorien: die milde und motorisch prädominante (49%) gefolgt von der intermediären Form (35%).
Die Zeit von Erstdiagnose bis zum ersten Meilenstein (häufige Stürze, Rollstuhl-Gebundenheit, Demenz oder Pflegebedürftigkeit) lag für den häufigsten Subtyp bei 14,3 Jahren, für den Intermediärtyp bei 8,2 und dem diffus-malignen Typ bei 3,5 Jahren.
Die mittlere Überlebenszeit nach Diagnose betrug 20,2 respektive 13,2 resp. 8,1 Jahre.
Auch wenn diese Zahlen verständlicherweise ebenfalls Ängste bei Betroffenen auslösen können, zeigen sie zumindest doch an, dass ein relevanter Teil der Patienten für viele Jahre ohne die schwere Behinderung lebt, wie sie in Zeichnungen wie der von Gowers portraitiert wurde.
Ein Neurologe, der selbst an Parkinson erkrankt ist, Prof. David Blacker, Medizinischer Direktor des Perron Institute for Neurological and Translational Science, Australien, schreibt in einem Kommentar zum Artikel seiner Kollegen:5
"Was wir als Ärzte zu unseren Patienten sagen, hat großes Gewicht; Worte müssen mit Umsicht gewählt werden und die Wahrnehmungen von Erkrankungen zählen. Ich vermute, dass das mentale Bild von Parkinson sogar den Erkrankungsfortschritt beeinflussen könnte; wenn um den Zeitpunkt der Diagnose ein negatives, nihilistisches Bild aufgebaut wird, könnte das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung, in Kombination mit Apathie, zu einer mangelnden Beteiligung an Physiotherapie und Bewegung beitragen, was meines Erachtens den Progress beschleunigt."
Die Autoren des Beitrages im JAMA Neurology machen auch auf den Umstand aufmerksam, dass Bilder wie jenes von Gowers zu Vorurteilen in der Bevölkerung beitragen, was von vielen Patienten beklagt wird. Stigma ist ein relevanter Einflussfaktor für die Lebensqualität.8 Forschung außerhalb der Parkinson-Erkrankung deutet ebenfalls darauf hin, dass Erwartungen selbsterfüllenden Charakter haben können: negative Wahrnehmungen des Alterns zum Ausgangszeitpunkt waren mit schlechterer Ganggeschwindigkeit, Einbußen in der Sprachkompetenz und herabgesetzter selbst bewerteter Gedächtnisleistung nach zwei Jahren Nachbeobachtungszeit assoziiert.5
Prof. Blacker bedankt sich: "Ich habe kürzlich meine Erfahrungen als Neurologe, der mit Parkinson lebt und arbeitet, publiziert9 und ich konnte sofort einen Bezug zu dem Bild des Läufers mit dem dystonen Fuß herstellen; ich danke den Autoren dafür, dass sie mir ein positiveres Bild gegeben haben als es die Version des Parkinson von 1886 tat."
Menschen mit Parkinson können helfen, die Wahrnehmung der Erkrankung zu verbessern und auch anderen Betroffenen zu zeigen, dass Parkinson keine einheitliche Erkrankung ist und Erkrankte ein sinnerfülltes Leben führen können, welches nicht allgemeingültig durch Behinderung limitiert ist.
Als ein solches Beispiel hatten wir in einem früheren Beitrag den international erfolgreichen Fotograf David Plummer vorgestellt, der bereits seit seinem 39. Lebensjahr mit der Erkrankung lebt und zu einer Art "Botschafter" – u. a. der Deutschen Parkinson Gesellschaft und der britischen Parkinson's Disease Society – geworden ist.
Referenzen:
1. Wijeratne, T., Grisold, W., Trenkwalder, C. & Carroll, W. World Brain Day 2020: move together to end Parkinson’s disease. The Lancet Neurology 19, 643 (2020).
2. Rocca, W. A. The burden of Parkinson’s disease: a worldwide perspective. The Lancet Neurology 17, 928–929 (2018).
3. GBD 2016 Parkinson’s Disease Collaborators. Global, regional, and national burden of Parkinson’s disease, 1990-2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. Lancet Neurol 17, 939–953 (2018).
4. Papa, S. M. et al. Impact of the COVID-19 Pandemic on Parkinson’s Disease and Movement Disorders. Mov. Disord. 35, 711–715 (2020).
5. Armstrong, M. J. & Okun, M. S. Time for a New Image of Parkinson Disease. JAMA Neurol (2020) doi:10.1001/jamaneurol.2020.2412.
6. Mehanna, R., Moore, S., Hou, J. G., Sarwar, A. I. & Lai, E. C. Comparing clinical features of young onset, middle onset and late onset Parkinson’s disease. Parkinsonism & Related Disorders 20, 530–534 (2014).
7. Pablo-Fernández, E. D., Lees, A. J., Holton, J. L. & Warner, T. T. Prognosis and Neuropathologic Correlation of Clinical Subtypes of Parkinson Disease. JAMA Neurol 76, 470–479 (2019).
8. Maffoni, M., Giardini, A., Pierobon, A., Ferrazzoli, D. & Frazzitta, G. Stigma Experienced by Parkinson’s Disease Patients: A Descriptive Review of Qualitative Studies. Parkinson’s Disease vol. 2017 e7203259 https://www.hindawi.com/journals/pd/2017/7203259/ (2017).
9. Blacker, D. A neurologist with Parkinson’s disease. Practical Neurology (2020) doi:10.1136/practneurol-2020-002623.