Reiseanamnese 2.0 – hätten Sie's gewusst? Logo of esanum https://www.esanum.de

Reiseanamnese 2.0 – hätten Sie's gewusst?

Neurologische Ausfälle auf der Heimreise aus Kuba...

Neurologische Ausfälle auf der Heimreise aus Kuba...

In der Zeitschrift JAMA Neurology (Journal of the American Medical Asscociation) gibt es unter der Rubrik "Clinical Challenge" immer wieder spannende Fallvignetten. Ein vor wenigen Tagen publizierter Fall kommt aus Montreal, Kanada, und unterstreicht die Wichtigkeit der körperlichen Untersuchung und des Kontextes, insbesondere bei Reiserückkehrern. Er berichtet von einer 69‑Jährigen Patientin, die sich nach einem Urlaub in Kuba auf der Heimreise nach Kanada befand.1 Auf dem Flughafen Havanna entwickelte sie eine generalisierte Schwäche, verstärktes Schwitzen, schwere Übelkeit und Erbrechen. Während des etwa vierstündigen Fluges traten Schläfrigkeit, Erbrechen und Urininkontinenz auf. Direkt vom Zielflughafen wurden sie in die Notaufnahme verbracht, bei Eintreffen war sie stuporös und intubationspflichtig. Bis zwei Stunden vor dem Heimflug war es ihr gut gegangen und es bestanden keine relevanten Vorerkrankungen und keine Allergien.

Cholinerges Syndrom

Im initialen Labor fielen eine leichte Anämie (Hb 10,9 g/dl), ein erhöhtes Kreatinin (1,31 mg/dl) und eine Azidose (pH 7,22, Anionenlücke normal) auf. Elektrolyte, Leukozytenzahl, Blutzucker, Kreatinkinase, Laktat, TSH, Gerinnung und Leberenzyme waren im Normbereich. Im EKG zeigte sich eine Sinusbradykardie (53 bpm) und eine grenzwertige QT‑Verlängerung (QTc 465 ms). Eine Liquoruntersuchung verlief ohne pathologischen Befund. Die Malaria-Diagnostik war negativ (Blutausstrich, Antigentest, PCR, Kulturen von Liquor, Blut und Urin). In einer CT des Kopfes kamen Hyperdensitäten der Globus pallidi beidseits zur Darstellung. Die toxikologische Untersuchung des Urins war negativ für Paracetamol, Salicylate, Opiate, Barbiturate, Kokain und Ethanol.

Innerhalb einiger Stunden verbesserte sich die Vigilanz spontan und die Patientin konnte extubiert werden. Sie war wach, aber desorientiert. Ihr Blutdruck betrug 99/61 mmHg, die Herzfrequenz 80 bpm, die Temperatur 37,6 °C und die Sauerstoffsättigung unter Raumluft 99%. Ihre Pupillen waren eng und lichtreagibel. Die Patientin wies eine leichte proximale Muskelschwäche bei normalem Muskeltonus und gelegentliche bilaterale Faszikulationen an oberer und unterer Extremität sowie abgehackte Bewegungen auf. Außerdem waren unwillkürliche Zuckungen der Gesichtsmuskulatur zu beobachten. Die Reflexe waren seitengleich normal auslösbar (kein Babinski-Zeichen). Schmerz- und Vibrationsempfinden waren normal.

Eine gar nicht so seltene Vergiftung...

Die in der kranialen Bildgebung sichtbaren Veränderungen passen zu senilen Verkalkungen des Globus pallidus. "Der Schlüssel zur Diagnose war die Konstellation der Zeichen und Symptome bei der körperlichen Untersuchung", schreiben die Autoren. Vigilanzminderung, Bradykardie, Emesis, Diaphorese, Harnabgang, Miosis, Muskelschwäche, Faszikulationen und myoklonische Zuckungen ließen die behandelnden Ärzte an eine Intoxikation mit einer cholinergen Substanz denken.
Weitere Abklärungen ergaben eine erniedrigte Pseudocholinesterase- und Acetylcholinesterase-Aktivität, passend zu einer Cholinesterase-Hemmung.
Eine Massenspektrometrie offenbarte eine Spur des Thiophosphorsäureesters Temephos im Serum. Vergiftungen mit Organophosphaten führen zu einer irreversiblen Acetylcholinesterase-Hemmung und somit indirekter Parasympathomimetikawirkung durch kovalente Bindung an das aktive Zentrum der Cholinesterase, was eine extrem lange Enzymhemmung zur Folge hat.2

Organophosphate dienen z. B. als Insektizide, Endo- und Ektoparasitika, chemische Kampfstoffe und als Therapeutika bei Glaukom (Paraoxon).2 Zu Intoxikationen kommt es in der Regel durch berufliche Exposition oder in suizidaler Absicht. Die Aufnahme kann durch Trinken, Einatmen der Dämpfe oder Kontakt mit der Haut erfolgen.3
Die konkrete Quelle der Vergiftung bei der Patientin war unklar, doch Temephos ist ein in Kuba breit angewendetes Larvizid. Kuba setzt zur Moskitobekämpfung und Minimierung von Zika-Ausbrüchen auf aggressive Begasung mit Insektiziden. Außerdem war im Serum der Patientin 3-Phenoxy-Benzoesäure (3‑PBA) nachweisbar, ein Abbauprodukt von Pyrethroid-Insektiziden. Da die Bevölkerung ständig mit solchen Insektiziden in Berührung kommt, beispielsweise über Rückstände auf Obst und Gemüse, ist 3-PBA bei vielen Menschen im Urin nachweisbar.4
Die Patientin war in ihrer Reisegruppe die einzige, die auf dem Flughafen, etwa eine halbe Stunde vor Symptombeginn, ein Sandwich (Schinken, Käse, Salat, Mayonnaise) und Tafelwasser gekauft und konsumiert hatte.

...und ihre Spätfolgen...

Am zweiten Tag nach Aufnahme waren die Symptome rückläufig und nach vier Tagen wurde die Patientin in gutem Zustand in die häusliche Umgebung entlassen.
Bei der Nachuntersuchung nach fünf Monaten berichtete sie jedoch Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust (18kg), täglich auftretende Kopfschmerzen, Störungen von Konzentration und Gedächtnis, Tinnitus und Schwanken sowie schmerzhafte Handschuh-Parästhesien mit Taubheit und Kälte der Hände.

Eine MRT des Kopfes war bis auf die vorbekannten Kalzifikationen unauffällig. Die Aktivität der Pseudocholinesterase hatte sich mäßig erholt und die Aktivität der Acetylcholinesterase hatte sich normalisiert. Die betreuenden Ärzte hielten eine Organophosphat-induzierte zeitverzögerte Neuropathie für hoch wahrscheinlich.

Mittels diverser validierter Testbatterien wurde bei der Patientin eine relevante neurokognitive Beeinträchtigung bestätigt. Es zeigten sich Störungen von Aufmerksamkeit, Exekutivfunktion und Gedächtnis. Dies ist im Zusammenhang mit Organophosphat-Neurotoxizität in der Literatur beschrieben, u. a. 2016–2018 bei amerikanischen und kanadischen Diplomaten und deren Familien in Kuba. Auch Vestibulopathien sind bekannt; bei der Patientin ergab sich sowohl ein Anhalt für eine auditorische Neuropathie als auch für eine Hirnstammläsion. Eine Exposition mit niedrigen Dosen von Organophosphaten und anderen Insektiziden in der Umwelt wird als Ursache des sog. Havanna-Syndroms vermutet.

Zu den Präventionsbemühungen gehört das Verbot sehr toxischer Arten von Organophosphaten. Organophosphat-Pestizide gehören zu den häufigsten Vergiftungsursachen weltweit. Jährlich werden fast 3 Mio. Intoxikationen, darunter 300 Tsd. Todesfälle, gezählt.3,5

Referenzen:
1. Serlin, Y., Minuk, J. & Schondorf, R. Neurological Impairments in a Patient Returning From Cuba. JAMA Neurol (2020) doi:10.1001/jamaneurol.2020.3193.
2. Pschyrembel Online | Organophosphat-Vergiftung. https://www.pschyrembel.de/Organophosphat-Vergiftung/B0P5F.
3. Organophosphatvergiftung - Organophosphate poisoning - qwe.wiki. https://de.qwe.wiki/wiki/Organophosphate_poisoning#Epidemiology.
4. Ärzteblatt, D. Ä. G., Redaktion Deutsches. Erhöhtes kardiovaskuläres Sterberisiko für Pyrethroid-Insektizide... Deutsches Ärzteblatt https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/108485/Erhoehtes-kardiovaskulaeres-Sterberisiko-fuer-Pyrethroid-Insektizide-entdeckt (2020).
5. Robb, E. L. & Baker, M. B. Organophosphate Toxicity. in StatPearls (StatPearls Publishing, 2020).