Wir alle sind chronisch exponiert gegenüber elektromagnetischen Feldern (EMFs). Die wachsende Datenlage zu den Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt sorgt für zunehmende Debatten.
Kurz vor Jahreswechsel haben wir in unserem Onkologie-Blog einen Zweiteiler über etwas veröffentlicht, das so ubiquitär und alltäglich vorhanden ist, dass mehr und mehr über die möglichen gesundheitlichen Folgen diskutiert wird: elektromagnetische Strahlung. Sie stellt mit einer Zunahme um das 1018-Fache seit Mitte des 20. Jahrhunderts die am rasantesten zunehmende, menschengemachte Umweltbelastung dar – sei es durch Funkmasten, Mobiltelefone, WLAN, DECT-Telefone, LTE, 5G‑Ausbau oder Smartmeters.
Einen spannenden Bereich, der bisher noch nicht zur Sprache kam, haben wir für das Neurologie-Blog herausgegriffen: was sagt die Datenlage zu Effekten auf die kognitive Leistungsfähigkeit? Wir möchten Sie nicht mit Studiendaten erschlagen, doch aus der Vielzahl der Arbeiten einige exemplarisch vorstellen, um ein besseres Gefühl dafür zu vermitteln, welche Risiken wir mit unseren aktuellen Praktiken und Grenzwerten wahrscheinlich eingehen.
Forscher der Universität Delhi konnten im Tierexperiment zeigen, dass subchronische Mikrowellenstrahlung niedriger Intensität zu einer Abnahme der kognitiven Funktion sowie zu Zellstress und DNA-Schädigung im Gehirn führt.
Sie bestrahlten Ratten für 90 Tage mit Frequenzen von 900, 1.800 und 2.450 MHz in sehr niedriger Intensität und führten anschließend verschiedene kognitive Tests durch, ebenso an einer Kontrollgruppe nicht bestrahlter Ratten. Nicht nur ließ bei allen drei Frequenzen die Lern- und Erinnerungsfähigkeit nach, in den abschließend gewonnenen Hippocampus-Gewebeproben stellten die Wissenschaftler DNA-Strangbrüche und Zunahme von HSP 70 (Hitzeschockprotein) fest, was die verschlechterte Hirnleistung erklären könnte. Bei der WLAN-Frequenz von 2450 MHz waren die Schäden am ausgeprägtesten.1,2
Eine weitere Forschungsgruppe warnt, dass hinsichtlich DECT-Strahlung die Anwendung des Vorsorgeprinzips – besonders bei empfindlichen Personengruppen (Babies, Schwangeren) – unbedingt angezeigt wäre, nachdem sie die Auswirkungen vor- und nachgeburtlicher Exposition gegenüber Strahlung einer 1.880-1.900 MHz-DECT-Basisstation auf die Entwicklung von Ratten untersucht hatten.
Die Tiere wurden entweder gar nicht, ausschließlich pränatal oder prä- und postnatal mit SAR-Werten weit unterhalb der Grenzwerte bestrahlt. In beiden exponierten Gruppen waren negative Auswirkungen auf die Intaktheit des Hippocampus nachweisbar (Verlust von Pyramiden-Zellen und Überexpression von saurem Gliafaserprotein oder GFAP). Die gemessenen Effekte auf die Zelldichte könnten ein Korrelat für Gedächtnisdefizite sein. Zudem zeigten bestrahlte Feten höhere Herzraten und nach der Geburt veränderte somatometrische Charakteristika. Die Autoren sprechen von irreversiblen Schäden während der Embryogenese.2,3
In einem anderen Experiment wurden schwangere Ratten gegenüber EMFs mit 900 MHz exponiert, was bei den Jungtieren ebenfalls mit schlechterem Lernverhalten und histopathologischen Veränderungen im Hirngewebe einher ging.4
Für Mobilfunkstrahlung im Hochfrequenz-Bereich von 1.950 MHz (UMTS, W-CDMA) konnte ein zytotoxischer Effekt auf Hippocampus-Zellen gezeigt werden. Durch vermehrte Produktion reaktiver Sauerstoffspezies wird dieser Effekt noch verstärkt. Dies trägt das Potential, neurodegenerative Erkrankungen auszulösen, z. B. M. Alzheimer.2,5
Chronische Einwirkung von Mobilfunkstrahlung von 900-950 MHz (GSM) senkte überdies bei Mäusen die Schwelle für epileptische Anfälle.2,6
Die Liste solcher Studiendaten, auch zu anderen Auswirkungen, wie Krebspotential oder Schädigung der Fertilität, ließe sich weiter und weiter fortsetzen – wie kann es dann sein, dass weiterhin keine ernsthaft schützenden Grenzwerte existieren und die Zunahme der Zwangsexposition gegenüber solcher Strahlung rasant weiter voran getrieben wird, wie gerade beim 5G-Ausbau zu beobachten?
Ein Grund liegt laut der Umwelt- und Verbraucherorganisation zum Schutz vor elektromagnetischer Strahlung e. V. in der Tatsache, dass diese Studiendaten in den Berichten offizieller Kommissionen regelmäßig unerwähnt bleiben, bspw. drastisch zu sehen am 7. Mobilfunkbericht der deutschen Bundesregierung von 2016. Die Abgeordneten des Bundestags erhalten schlicht diesen Teil der Informationen nicht.2
Ein Gutachten der Advisory Group on Non-ionising Radiation (AGNIR) von 2012, auf den sich Gesundheitsorganisationen weltweit berufen, bildet die Grundlage für viele offizielle Richtlinien. Eine unabhängige englische Neurophysiologin, Sarah J. Starkey, publizierte in der Zeitschrift Reviews on Environmental Health einen Artikel, in welchem sie die beste verfügbare Evidenz mit dem Inhalt dieses Gutachtens verglich. Ihre Feststellung: die Studienlage wurde fehlerhaft und unvollständig wiedergegeben. Oft finden sich Interessenkonflikte und international fast namensgleiche Teams von Gutachterkommissionen, die immer wieder die festgelegten Grenzwerte und die vermeintliche Unbedenklichkeit bestätigen.2,7
Das erfolgreiche Buch "Disconnect" von Devra Davis, PhD, Präsidentin des Environmental Health Trust und Finalistin des National Book Awards, behandelt ebenfalls diese düstere Seite der Telekommunikationsindustrie, die wesentlich größer und einflussreicher ist als der medizinindustrielle Komplex. Davis schreibt u. a., dass unabhängige Studien etwa doppelt so häufig Hinweise auf negative Auswirkungen von Mobilfunkstrahlung finden als von der Industrie finanzierte, Letztere machen jedoch die Mehrzahl aus. Einige Autoren benennen auch der Tabakindustrie vergleichbare Taktiken im Umgang mit diesen Debatten, wie bspw. Diskreditierung von Forschern, die kritische Arbeiten veröffentlichen.8
Der Europarat und weitere Experten kamen aufgrund der vorhandenen Evidenz zu dem Schluss, dass Mobiltelefone und drahtloses Internet potenziell gesundheitsschädlich sind und dass sofortige Maßnahmen, insbesondere zum Schutz von Kindern, nötig sind. Das Council of Europe lehnt daher WLAN und Handys an Schulen ab. Laut dem Bericht des Komitees dürfe man nicht zulassen, dass sich Fehler von Verantwortlichen des Gesundheitswesens, die es bereits versäumten, die Risiken durch Asbest, Rauchen oder Blei korrekt zu bewerten, in Zukunft wiederholen.9
Referenzen:
1. Deshmukh, P. S. et al. Effect of Low Level Subchronic Microwave Radiation on Rat Brain. Biomed. Environ. Sci. 29, 858–867 (2016).
2. WLAN und DECT-Telefone vermindern Gedächtnisleistung - diagnose:funk. Available at: https://www.diagnose-funk.org/publikationen/artikel/detail&newsid=1168. (Accessed: 10th January 2019)
3. Stasinopoulou, M. et al. Effects of pre- and postnatal exposure to 1880-1900MHz DECT base radiation on development in the rat. Reprod. Toxicol. 65, 248–262 (2016).
4. İkinci, A. et al. The Effects of Prenatal Exposure to a 900 Megahertz Electromagnetic Field on Hippocampus Morphology and Learning Behavior in Rat Pups. NeuroQuantology 11, (2013).
5. Kim, J.-Y., Kim, H.-J., Kim, N., Kwon, J. H. & Park, M.-J. Effects of radiofrequency field exposure on glutamate-induced oxidative stress in mouse hippocampal HT22 cells. Int. J. Radiat. Biol. 93, 249–256 (2017).
6. Kouchaki, E., Motaghedifard, M. & Banafshe, H. R. Effect of mobile phone radiation on pentylenetetrazole-induced seizure threshold in mice. Iran J Basic Med Sci 19, 800–803 (2016).
7. Starkey, S. J. Inaccurate official assessment of radiofrequency safety by the Advisory Group on Non-ionising Radiation. Rev Environ Health 31, 493–503 (2016).
8. Cellphone Safety Standards Are Not as Safe As You Think. Mercola.com Available at: http://articles.mercola.com/sites/articles/archive/2012/01/17/cell-phones-using-the-wrong-safety-standards.aspx. (Accessed: 12th January 2019)
9. European Leaders Don’t Want Cell Phones and WiFi in Schools. Mercola.com Available at: http://articles.mercola.com/sites/articles/archive/2011/06/02/european-leaders-call-for-ban-of-cell-phones-and-wifi-in-schools.aspx. (Accessed: 12th January 2019)