Eine neue Klassifikation für kognitive Defizite bei MS könnte den EDSS-Score ergänzen, um die Einschätzung der klinischen Beeinträchtigung und therapeutische Entscheidungen zu unterstützen.
Neben den Funktionsverlusten auf körperlicher Ebene sind es oft die weniger sichtbaren, emotionalen und mentalen Symptome einer MS, die eine erhebliche Krankheitslast mit sich bringen. Etwa 43–70%1 der MS-Patienten sind von kognitiven Störungen betroffen. Diese beginnen frühzeitig2, bleiben jedoch häufig längere Zeit unerkannt.3
Daher ist es wichtig, dem Screening auf kognitive Beeinträchtigungen in der Routineversorgung adäquate Bedeutung beizumessen und die Erkenntnisse daraus in die Behandlung einzubeziehen. Kognitive Defizite können ein prognostisches Zeichen und ein Indikator für frühe Schäden sein.2
Eine aktuell im JAMA Neurology erschienene Studie, die 1.212 MS-Patienten (Durchschnittsalter 41 Jahre, 65% Frauen) aus acht Zentren in Italien untersuchte, schlägt eine Kategorisierung in fünf kognitive Phänotypen vor, die den EDSS um genau diese Ebene ergänzen könnten.4,5
Eingeschlossen wurden nur klinisch stabile Patienten mit MS sowie gesunde Kontrollen, die keine psychoaktiven Medikamente einnahmen und bei denen keine andere neurologische oder sonstige Störung, Lernbehinderung, schweres Schädeltrauma oder Alkohol-/ Drogenabusus bestanden.
Mithilfe des statistischen Verfahrens der latenten Klassenanalyse (LCA) identifizierten sie die folgenden Subtypen:
Patienten mit erhaltener Kognition (1) und milder Beeinträchtigung des verbalen Gedächtnisses/ der semantischen Flüssigkeit (2) waren im Mittel deutlich jünger und hatten eine kürzere Erkrankungsdauer als kognitiv stärker beeinträchtigte Teilnehmer.
Die relativen Häufigkeiten der beiden schwersten Kategorien (4 und 5) nahmen von der frühen schubförmig remittierenden MS über die späte schubförmig remittierende MS bis zur sekundär progredienten MS stetig zu. Schwer eingeschränkte kognitive Phänotypen überwogen bei Patienten mit progressiver MS (hier waren 19% als Grad 4 und 36% als Grad 5 einzustufen).
Angesichts der Heterogenität der kognitiven Beeinträchtigung bei Patienten mit MS wären weitere Studien zur Verifizierung wünschenswert, da hier nur ein Teil der Probanden eine MRT erhielten und es sich um eine reine Querschnittstudie handelte. Der Neurology Advisor merkt außerdem an, dass die Daten auf einer klinischen Stichprobe basieren, die möglicherweise nicht repräsentativ für die allgemeine MS-Population ist.5
Die dennoch wertvolle Arbeit schließt mit den Worten:
"...durch die Definition homogener und klinisch signifikanter Phänotypen können die Einschränkungen der traditionellen dichotomen Klassifizierung bei MS überwunden werden. Diese Phänotypen können ein aussagekräftigeres Maß für den kognitiven Status von MS-Patienten darstellen und dabei helfen, die klinische Behinderung genauer zu bezeichnen, Ärzte bei Behandlungsentscheidungen zu unterstützen und individuell angepasste kognitive Rehabilitationsstrategien festzulegen."
Referenzen:
1. Grzegorski, T. & Losy, J. Cognitive impairment in multiple sclerosis - a review of current knowledge and recent research. Rev Neurosci 28, 845–860 (2017).
2. Grey Matters, Too | The Role Of Grey Matter In Managing Multiple Sclerosis And Related Brain Atrophy. https://www.msgreymatters.com/.
3. Prof. Giovannoni. Cognitive Testing In MS. https://soundcloud.com/gavin-giovannoni/cognitive-testing-in-ms.
4. Meo, E. D. et al. Identifying the Distinct Cognitive Phenotypes in Multiple Sclerosis. JAMA Neurol 78, 414–425 (2021).
5. New Classification of Cognitive Phenotypes for Patients With MS. Neurology Advisor https://www.neurologyadvisor.com/topics/multiple-sclerosis/new-classification-of-cognitive-phenotypes-for-patients-with-ms/ (2021).