Ein im Juni 2020 erschienener Bericht, in dem es um die derzeit bestehenden Lücken in der Wahrnehmung und Versorgung von Menschen mit sekundär progredienter MS (SPMS) geht, trägt den Titel "The Forgotten Many: A 2020 Vision for Secondary Progressive Multiple Sclerosis".1
"The Forgotten Many" – so müssen SPMS-Patienten sich fühlen, meint derjenige, der das Vorwort zu diesem Bericht geschrieben hat: Prof. Gavin Giovannoni von der Barts and the London School of Medicine and Dentistry, Queen Mary University of London, einer der weltweit führenden MS‑Spezialisten (Sie werden den Namen in manchen der Neuro-Blogs hier wiederfinden).1
Bei 85% der Patienten besteht initial eine schubförmig remittierende MS (relapsing-remitting oder RRMS). Viele dieser Patienten erleben – innerhalb von Jahren oder Dekaden – eine Transition in eine sekundär progrediente MS (SPMS), bei der es auch in Abwesenheit von Schüben zum zunehmenden Verlust von Funktionen und somit von Lebensqualität kommt.2
In einer österreichischen Registerstudie3, die 793 Patienten mit RRMS über 10 Jahre hinweg folgte, kam es bei 18% innerhalb der Beobachtungszeit zu einem Übergang in eine SPMS. Das mittlere Alter der Patienten bei Konversion zur SPMS lag bei 38 Jahren. Insgesamt entwickeln etwa zwei von drei initial mit einer RRMS Diagnostizierten im Verlauf eine SPMS.1
Dies hat weitreichende Auswirkungen auf die Betroffenen, ihre Familien, das Gesundheitssystem und die Gesellschaft als Ganzes.
Die Unwirksamkeit vieler, für die schubartige Verlaufsform zugelassenen Medikamente hinterlasse bei SPMS-Patienten oft den Eindruck, sie hätten eine zweite, andersartige, untherapierbare Erkrankung, so Giovannoni. Zudem beobachtet er in Großbritannien, dass viele Menschen mit SPMS aus ihren regulären neurologischen Kontrolluntersuchungen an gemeindenahe Dienste und ihre Allgemeinärzte zur Betreuung aller Probleme entlassen werden. So fristen viele SMPS-Kranke ihr Dasein, in der Überzeugung, eine nicht behandelbare, erbarmungslos fortschreitende Erkrankung zu haben. Für Patienten, die in Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Therapien (DMT) für RRMS stehen, bringt ein Erkrankungsfortschritt auch die Angst mit sich, dass eine SPMS-Diagnose das Ende ihrer Therapie bedeutet. Jemandem mitzuteilen, dass er an SPMS leidet, ist laut Giovannoni in diesem Sinne nicht sehr viel anders als jemandem zu sagen, dass er eine terminale Erkrankung hat. Aus genau diesem Grund ist es sowohl für Behandler als auch für Patienten schwierig, dieses Thema anzusprechen.
Die Erkennung der Transitionsphase von einer RRMS zu einer SPMS kann schwierig sein, da die Veränderung nicht plötzlich, sondern typischerweise schleichend vonstattengeht, wobei sich schubartige und progrediente Muster überlappen können.
Dabei gibt es zunehmende Evidenz, dass ein aggressives Management MS-assoziierter Komorbiditäten und Lebensstil-Interventionen die MS-Outcomes verbessern können.
Der Bericht stellt daher die bisherige Sichtweise einer nicht effektiv behandelbaren Situation infrage und spricht sich für aktiveres Management und Therapie von Menschen mit SPMS aus.
Um diesen "vergessenen Patienten" besser Rechnung zu tragen, bräuchte es aber eine Umstrukturierung und die entsprechenden, auch personellen, Ressourcen, beispielsweise in Form von neuen MS‑Zentren, mehr MS‑Neurologen und MS‑Schwestern, mehr zur Nachbeobachtung solcher Patienten eingeplante MRT‑Zeiten sowie Zusatzdienste, um den massiven ungedeckten Bedürfnissen von Patienten mit größeren Behinderungen und damit verbundenen Komorbiditäten begegnen zu können.
Die Aussage oder der Hilferuf an Politiker und Gesundheitsdienstleister, dass die Kapazität der aktuellen neurologischen Versorgungsstrukturen zur Betreuung dieser Patientengruppe nicht ausreicht, ohne dass sich etwas ändert, ist in der Publikation für Großbritannien beschrieben, aber sicherlich auf viele weitere Länder übertragbar.
Die Anzahl der MS‑Erkrankten hat sich in Deutschland innerhalb von vier Dekaden verdoppelt. Neben einer höheren Lebenserwartung und verbesserter Diagnostik scheinen verschiedene Umweltfaktoren für diese Entwicklung eine Rolle zu spielen.4
Laut im Mai 2018 aktualisierten Daten aus dem Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung befanden sich im Jahr 2015 insgesamt 223.748 gesetzlich Versicherte aufgrund einer gesicherten MS‑Diagnose in Behandlung.5 Eine vergleichbare Prävalenz bei Privatversicherten vorausgesetzt, sei von 240 Tsd. MS-Patienten auszugehen –doppelt so viele wie vor dieser populationsbasierten Auswertung angenommen. Der Versorgungsatlas zeigt außerdem einen Anstieg der Diagnoseprävalenz von 29 Prozent in nur wenigen Jahren (von 2009 bis 2015). Auch ein starkes Ost- und West-Gefälle fiel ins Auge. Die Inzidenz lag im Westen mit 19 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner um etwa ein Viertel höher als im Osten (15 pro 100.000). Die hier gefundenen Inzidenzen fallen insgesamt deutlich höher aus als von allen früheren deutschen Studien vermutet.
Der Bericht "The Forgotten Many" zeigt auf, wie dringend es ist, diese Lücken zu schließen und gibt eine Reihe von Empfehlungen, die von einer Gruppe von Experten des Fachgebietes zusammengestellt wurden und die helfen könnten, die Versorgung von SPMS-Patienten zu transformieren, in der Hoffnung, die Lebensqualität und die neurologischen Outcomes zu verbessern und gleichzeitig unnötige und verhinderbare Komplikationen und Inanspruchnahme von Ressourcen zu reduzieren.
Das ganze Dokument können Sie hier lesen.
Referenzen:
1. Sue Thomas, Stephen Thomas & Sarah Mehta. The Forgotten Many:A 2020 Vision forSecondary ProgressiveMultiple Sclerosis. https://wilmingtonhealthcare.com/wp-content/uploads/2020/06/The-Forgotten-Many-A-2020-Vision-for-Secondary-Progressive-Multiple-Sclerosis-JUNE20-15062020.pdf.
2. Types of MS | Multiple Sclerosis. MS International Federation https://www.msif.org/about-ms/types-of-ms/.
3. Bsteh, G. et al. Long Term Clinical Prognostic Factors in Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis: Insights from a 10-Year Observational Study. PLOS ONE 11, e0158978 (2016).
4. Zahl der MS-Kranken hat sich in Deutschland verdoppelt. AerzteZeitung.de https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Warum-es-heute-so-viele-MS-Kranke-gibt-225639.html.
5. Jakob Holstiege. Epidemiologie der Multiplen Sklerose – eine populationsbasierte deutschlandweite Studie. https://www.versorgungsatlas.de/fileadmin/ziva_docs/86/VA-86-Multiple%20Sklerose-Bericht-V13_Cor..pdf.