Der Ärzte-Appell im 'Stern': Erlöse versus Patientenwohl Logo of esanum https://www.esanum.de

Der Ärzte-Appell im 'Stern': Erlöse versus Patientenwohl

Interessenkonflikte zwischen wirtschaftlichen und medizinischen Beweggründen sorgen für Entwicklungen, die es wirklich guter Medizin immer schwerer machen. Hunderte Kollegen unterstützen bereits den 'Ärzte-Appell', der damit aufräumen will.

Interessenkonflikte zwischen wirtschaftlichen und medizinischen Beweggründen sorgen für Entwicklungen, die es wirklich guter Medizin immer schwerer machen. Hunderte Kollegen unterstützen bereits den 'Ärzte-Appell', der damit aufräumen will.

Niemand käme auf den Gedanken, von Polizei oder Feuerwehr zu erwarten, dass sie Umsatz generieren – warum ist das in Krankenhäusern und Notaufnahmen anders?
Die Einführung des Fallpauschalen-Systems vor 16 Jahren und die zusätzlichen ökonomischen Zwänge führen zu besorgniserregenden Entwicklungen. 

"Die Führung eines Krankenhauses gehört in die Hände von Menschen, die das Patientenwohl als wichtigstes Ziel betrachten. Deshalb dürfen Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften keine Entscheidungsträger vorgesetzt sein, die vor allem die Erlöse, nicht aber die Patientinnen und Patienten im Blick haben", heißt es in dem Artikel zum Ärzte-Appell im 'Stern'.1–3
Hunderte Ärzte aus ganz Deutschland unterstützen bereits den Appell, der weiterhin läuft und den Sie hier mitzeichnen können. Die Petenten fordern u. a. die Abschaffung des Fallpauschalen-Systems oder zumindest dessen grundlegende Reformierung und den Abbau finanzieller Fehlanreize. Landesärztekammern und Fachgesellschaften, wie die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften), DGIM (Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e. V.) oder der DGCH (Deutsche Gesellschaft für Chirurgie) stellen sich ebenfalls hinter den Aufruf. Zum Zeitpunkt eines Updates vom 20. September war die Zahl auf etwa 1.000 Unterstützer gestiegen. Das ist sehr erfreulich, denn das bedeutet, dass es bereits in den öffentlichen Fokus gerückt ist, aber damit es nicht im Sande verläuft, sondern aus den angestoßenen Diskussionen wirklich Taten und Änderungen folgen, ist die größtmögliche Unterstützung und somit jeder von uns gefragt.

Konstruktionsfehler im System

Die im Appell benannten Probleme können sowohl Unter- als auch in Übertherapie zur Folge haben. Das System verleitet dazu, mit Operationen und teuren invasiven Untersuchungen verschwenderisch umzugehen, während sich mit Dingen wie guter Beratung, Prävention, Beobachtung und Abwarten, bevor übereilt Prozeduren eingeleitet werden oder ggf. konservativen statt operativen Therapieversuchen weniger Umsatz generieren lässt.

Die Neurologie ist eines der am schnellsten wachsenden Fachgebiete überhaupt. Die Bundesärztekammer zählte zum Jahreswechsel 2018/ 2019 8.344 Neurologen (zum Vergleich: 1993 waren es noch 1.270).4 Etwas über zweitausend von Ihnen sind im ambulanten und fünftausend im stationären Bereich tätig.5

Das Fach steht vor einer zunehmenden Herkules-Aufgabe. Alterserwartung der Bevölkerung und Prävalenzen neurologischer Erkrankungen steigen. Laut einer Strukturdatenumfrage der DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) stieg die Fallzahl in neurologischen Kliniken zwischen 2009 und 2013 um 10%. Gleichzeitig nahm die Verweildauer im Krankenhaus ab, 2015 auf 6,5 Tage pro Fall. Das war 13 Prozent kürzer als noch 2007. Im gleichen Zeitraum sank der Erlös pro Fall leicht, aber stetig. "Hier handelt es sich um einen Hamsterradeffek"“, meint Prof. Ralf Gold, Direktor des Neurologischen Uniklinikums Bochum und erster Vorsitzender der DGN 2015–2016. Weil sich die zukünftigen Fallpauschalen an den aus der Not geborenen sinkenden Kosten orientieren, gibt es bei der nächsten Fallpauschalen‐Berechnung wiederum weniger Geld pro Fall. "Sinkende Behandlungskosten durch Rationalisierungen führen damit auf Dauer zu deutlichen Risiken in der Versorgungsqualität", warnt Prof. Gold.6 Sparsame Kliniken und hinsichtlich größerer Maßnahmen zurückhaltende Ärzte werden also abrechnungstechnisch eher bestraft. So kann gute Medizin nicht funktionieren.

ICD-Kodierung verzerrt Statistiken

Also immer weniger Geld, immer weniger Versorgung? Eines der zahlreichen Probleme besteht darin, dass Neurologen viele Krankheitsbilder betreuen (oder zumindest mitbehandeln), die sich über die ICD nicht als "Erkrankungen des Nervensystems" abbilden. Das ist schlecht, weil die ICD für die Verteilung von Geldern für Forschung, Behandlung und Vorsorge herangezogen wird. Bspw. werden Schlaganfälle erst mit Inkrafttreten der ICD-11 (Januar 20227) unter den neurologischen Diagnosen erscheinen. Bislang werden sie als "Herz-Kreislauf-Erkrankungen" kodiert, auch wenn die Versorgung zu einem großen Teil durch die Neurologen geschieht.8

Vergleichbares gilt für Kopfschmerzen, Demenzen oder Bandscheibenvorfälle. "Neurologen schuften sozusagen unter Tage, aber über Tage werden sie zu wenig wahrgenommen", sagt Prof. Gold.6 Unter Korrektur für diese Tatsache behandeln die oben genannten siebentausend Kollegen in Deutschland schon jetzt an die 3 Mio. Patienten jährlich.9 Wir alle kennen die Schätzungen, wie viele alte und neurologisch erkrankte Menschen in den nächsten Dekaden zu erwarten sein werden. Wenn das keine Kopfschmerzen macht...

Referenzen:
1. Mensch vor Profit! Diese Mediziner haben den Ärzte-Appell bislang unterzeichnet. stern.de (2019). Available at: https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell-im-stern--diese-mediziner-haben-bislang-unterzeichnet-8891712.html. (Accessed: 21st September 2019)
2. Der Ärzte-Appell: Gegen das Diktat der Ökonomie in unseren Krankenhäusern. stern.de (2019). Available at: https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell-im-stern--rettet-die-medizin--8876008.html. (Accessed: 21st September 2019)
3. Ärzte-Appell im stern schlägt hohe Wellen - auch die Politik reagiert. stern.de (2019). Available at: https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell-im-stern-schlaegt-hohe-wellen---die-wichtigsten-reaktionen-8890722.html. (Accessed: 21st September 2019)
4. Gesamtzahl der Ärzte. Available at: https://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2018/gesamtzahl-der-aerzte/. (Accessed: 22nd September 2019)
5. ADV-MAL. 7000 Fachärzte für Millionen Patienten: die Neurologie und ihre Herkulesaufgabe in der Versorgung. Available at: https://www.dgn.org/presse/pressemitteilungen/56-pressemitteilung-2018/3687-7000-fachaerzte-fuer-millionen-patienten-die-neurologie-und-ihre-herkulesaufgabe-in-der-versorgung. (Accessed: 23rd September 2019)
6. Neue Studie: Neurologen behandeln bis zu 2,8 Millionen Patienten pro Jahr – die Neurologie wächst so schnell wie kein anderes Fach. Available at: https://www.dgn.org/presse/pressemitteilungen/3118-neurologen-behandeln-bis-zu-2-8-millionen-patienten-pro-jahr-die-neurologie-waechst-so-schnell-wie-kein-anderes-fach. (Accessed: 23rd September 2019)
7. Wann kommt die ICD-11? Available at: https://www.dimdi.de/dynamic/de/faq/faq/Wann-kommt-die-ICD-11/. (Accessed: 23rd September 2019)
8. Ärzteblatt, D. Ä. G., Redaktion Deutsches. Schlaganfall wird im neuen ICD als neurologische Erkrankung kodiert. Deutsches Ärzteblatt (2017). Available at: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/74101/Schlaganfall-wird-im-neuen-ICD-als-neurologische-Erkrankung-kodiert. (Accessed: 23rd September 2019)
9. 7.000 Fachärzte für Millionen Patienten: die Neurologie und ihre Herkulesaufgabe in der Versorgung. Available at: https://www.esanum.de/today/posts/7000-fachaerzte-fuer-millionen-patienten-die-neurologie-und-ihre-herkulesaufgabe-in-der-versorgung. (Accessed: 23rd September 2019)