Derzeit wieder besonders viele Virusinfekte bei Kinderärzten Logo of esanum https://www.esanum.de

Virusinfekte: Bis zu 40 Prozent mehr Kinder beim Kinderarzt

Der Berliner Kinderarzt Dr. Martin Karsten hat jedes Jahr vor Weihnachten  ein Déjà-vu - und natürlich nicht nur er. Aber das müsste nicht sein, erklärt er in seiner Kolumne.

Rhinoviren und Corona am häufigsten

In den Kinderarztpraxen ist derzeit die Hölle los, salopp gesagt. Seit etwa 14 Tagen sind die Atemwegserkrankungen extrem in die Höhe geschnellt. Wir haben jetzt dreißig bis vierzig Prozent mehr Patienten als im September. Das muss alles zusätzlich zur Routine aus Vorsorge, Beratung, Impfen, Betreuung von chronisch kranken Kindern geleistet werden. Die Zahl ist aktuell noch höher als im letzten Jahr, aber zum Glück sind die Kinder nicht so schwer krank. Es gibt nicht so viele Sauerstoffpflichtige, das liegt daran, dass wir es weniger mit RSV-Infektionen zu tun haben. Vor allem geht es um Rhinoviren, und Corona ist auch stark verbreitet. Grippe und RSV treten eher vereinzelt auf.

Ein Riesenproblem ist, dass die Kinder die Viren in die Familien einschleppen, dass sie die Erzieher und Lehrer anstecken. Und wenn die in großer Zahl wegen Krankheit ausfallen, müssen Kita-Gruppen zusammengelegt werden, Unterricht fällt aus. Das hat weitreichende Folgen. Dabei sind die Rhino-Infektionen überhaupt nicht dramatisch. Die Kinder haben ein, zwei Tage Fieber, husten auch, aber fit für die Kita oder Schule sind sie eben nicht.

Grundsätzlich kann man also beruhigen: Das sind Effekte, die wir jedes Jahr sehen. Für mich ist das ein Déjà-vu. Man weiß genau, um diese Jahreszeit geht es wieder los mit den viralen Infekten. Der Kinderarzt hat die härteste Zeit immer vor Weihnachten.

Verbreitung der Viren sollte dringend verhindert werden

Deswegen denke ich, dass sich Eltern auch fragen können: Muss ich in dieser Phase wirklich zu jeder Weihnachtsfeier? Muss ich mit den Kindern ins Kaufhaus gehen? Sinnvoll wäre es jetzt, große, zusätzliche Menschenansammlungen zu vermeiden, um die Verbreitung dieser Viren zu vermindern - sowohl für das eigene Kind als auch für andere. Und man sollte die Zeit jetzt nutzen, die Kinder gegen Grippe zu impfen, um der Influenza, die ja weit gefährlicher ist, vorzubeugen. Denn die echte Grippewelle kann ja auch jederzeit losgehen. 

Und ich wünsche mir als Kinderarzt auch noch etwas anderes: Erwachsene können jetzt wieder auf die telefonische Krankschreibung zurückgreifen. Kinder müssen aber massenhaft zu uns in die Praxis kommen, weil Lehrer ärztliche Bescheinigungen verlangen, wenn die Kinder wegen Husten, Schnupfen, Heiserkeit zu Hause bleiben. Das heißt, die Kinder machen mit harmlosen Rhinoviren die Praxen voll, nur weil sie einen Zettel vom Arzt brauchen. Eltern können ihre Kinder nicht selbst vom Unterricht befreien. Das ist eine Riesendiskussion. Spätestens am dritten Tag muss eine ärztliche Bescheinigung vorgelegt werden, manche Schulen verlangen auch schon vom ersten Tag an eine ärztliche Befreiung. Das gehört dringend abgeschafft. Ich denke, es werden vielleicht einige dabei sein, die schwindeln. Aber Lehrer können auch sehr gut einschätzen, wenn sich die Fehltage häufen und entsprechend reagieren. Aber den Arzt hier zwischen zu schalten, ist eine Vergeudung von Ressourcen, die wir derzeit, wo wir uns um viele wirklich Kranke kümmern müssen, nicht haben. Denn mehr als das Kind zu Hause zu behalten und es vielleicht ins Bett zu stecken, ist meist gar nicht nötig und auch nicht möglich. 

Nicht jedes Kind muss wegen einer Virusinfektion zum Arzt

Eine virale Diagnostik ist nicht unbedingt zielführend, denn die Infekte um diese Jahreszeit sind zu 95 Prozent virale Infekte. Bei Kindern, die immungesund sind, handelt es sich eindeutig um selbstlimitierende Erkrankungen. Zum Arzt gehen sollten Kinder, die Vorerkrankungen haben, die chronisch krank sind, wo ein Virus dann auch gefährlich sein kann. Also noch einmal ganz deutlich: nicht jeder virale Infekt muss von einem Arzt gesehen werden. Hier brauchen wir breite Aufklärung und einen gesellschaftlichen Konsens. 

Extrem selten brauchen Kinder ein Antibiotikum. Eltern und Großeltern merken selbst, wenn es wirklich schlimmer wird, das Fieber steigt, oder die Kinder erbrechen, dann bleibt immer noch Zeit zum Handeln. Nur bei Säuglingen muss man extrem vorsichtig sein. Wenn sie krank werden und zum Beispiel Luftnot haben, muss man sofort handeln. In allen anderen Fällen wünsche ich mir mehr Gelassenheit und dass die Eltern auch auf ihr Gefühl vertrauen. Ruhe, Fiebermittel, eine gute Brühe, Tee in kleinen Mengen - mehr muss es meist nicht sein. Das Standardprogramm kannten früher alle Familien. Heute fehlt das leider bei vielen. Sodass ich als Kinderarzt auch ein bisschen so etwas wie eine Gebetsmühle geworden bin. Ich wünsche mir also mehr Aufklärung für alle und mehr Gelassenheit der Eltern sowie Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen. 

Meiner Meinung nach sollte es nicht von Fall zu Fall dem einzelnen Arzt überlassen sein, wie er mit dem Ansturm umgeht. Das habe ich alles schon zig mal erlebt. Und mich wundert die schlechte Aufklärung der Gesellschaft. Alle wissen, es gibt zwei große Infektwellen: einmal vor Weihnachten und einmal dann wieder im Februar. Warum? In den Weihnachtsferien erleben wir eine Zäsur. Die Kinder bleiben zu Hause in ihrem Kokon, Schulen und Kitas sind geschlossen, Familien bleiben häufiger unter sich. Und schon kehrt Ruhe ein ins Infektionsgeschehen. Und im Februar ist dann wieder die Hölle los. Mit einem sinnvolleren Umgang könnte man das abschwächen.

Dr. med. Martin Karsten

Dr. Karsten ist Facharzt für Kinderheilkunde und seit 1990 niedergelassen in einer pädiatrischen Gemeinschaftspraxis mit Dr. Evelyn Rugo und Dr. Matthias Wagner in Berlin-Wilmersdorf.