Die Kinderarztpraxen in Berlin und überall im Land laufen voll. Wir erleben gerade das stärkste Influenza-Jahr, das wir seit langem hatten. Influenza verdrängt alle anderen Infektionen. RSV, Corona spielen keine Rolle. 90 Prozent der Kinder mit Fieber haben Influenza. Durch die große Zahl gibt es entsprechend viele Komplikationen bei den Kranken. Gleichzeitig sind die Kinderkliniken völlig überfüllt. Eigentlich dachten viele, dass durch die konsequente RSV-Prophylaxe – wir haben über 95 Prozent der Kinder immunisiert – die Kliniken etwas entlastet würden. Aber die Grippewelle ist dieses Jahr so stark, dass dieser erhoffte Entlastungseffekt ausfällt.
Obwohl für den einzelnen die Influenza nicht gefährlicher ist als sonst, kommen sehr viele Komplikationen zusammen: Lungenentzündungen, Fieberkrämpfe, neurologische Symptome, Enzephalitis, Myositis. Es gibt viele Gründe, die Kinder stationär einzuweisen. Und so gibt es immer wieder Abende, wo wir kein freies Bett für unsere kleinen Patienten finden und lange herumtelefonieren müssen. Da sitzt manchmal eine medizinische Fachangestellte eine Stunde dran, um ein freies Bett zu finden.
Einfacher wäre es natürlich, man gäbe den Eltern eine Einweisung und die nächste Klinik hätte den schwarzen Peter. Aber die Betroffenen und die Kollegen tun mir natürlich leid. Dann warten die Familien erstmal ewig in der vollen Aufnahme und ein Assistent muss dann stundenlang herumtelefonieren. Im Endeffekt werden die Patienten von Berlin nach Cottbus gebracht. Der Umkreis, wohin die Patienten geschickt werden, ist bis zu 100 Kilometer entfernt von Berlin.
Wir haben es kommen sehen. Auch in Australien gibt es ein sehr starkes Grippejahr. Es wirkt sich aus, dass es immer noch Kinder gab, die durch Corona noch keinen Kontakt mit Grippeviren hatten – und dann läuft die Grippe eben besonders stark ab. Es gibt ja bei Grippe eine Art Teilimmunität. Wer sie im letzten Jahr durchlaufen hat, den erwischt es jetzt nicht ganz so schlimm. Aber durch die zurückliegenden Corona-Lockdowns ist es jetzt eben besonders hart.
Hinzu kommt etwas, was mir in unserer Praxis aufgefallen ist: Impfmüdigkeit. Ich bin ein großer Freund davon, Kinder gegen Grippe zu impfen – aber dieses Jahr erlebe ich eine deutlich gesunkene Nachfrage nach Influenza-Impfungen. Die Eltern sind eindeutig skeptischer geworden. Da ist auch ein Wandel bei den sozialen Gruppen eingetreten. Früher waren die Impfskeptiker eher in der Ökoszene zu finden. Jetzt sind es eher jene Schichten, die ihr Wissen nicht aus Nachrichten, sondern sich bei TikTok und Instagram informieren. Mir hat neulich eine Mutter gesagt, sie habe von einem Influencer gehört: RSV gibt es nicht! Sie hat ihr Kind nicht immunisieren lassen. Drei Tage später lag das Kind sauerstoffpflichtig auf der Intensivstation. Sie musste ihr Tik-Tok-Wissen teuer bezahlen.
Ich denke, dem Trend müssen sich die Kinderärzte stellen. Das ist jetzt so. Wir müssen mit unserem Wissen auch in den sozialen Medien vertreten sein.
Wenn wir gegen RSV oder auch gegen Grippe impfen, fragen die Eltern oft besorgt: Ist es auch wirklich ohne die Corona-Impfung? Oder wenn wir einen Abstrich machen, sagen die Eltern aufgeregt: Mein Kind hat doch kein Corona! Da ist eine völlig neue Empfindlichkeit und auch Misstrauen zu spüren. Wir müssen natürlich jetzt mehr reden, mehr aufklären. Manchmal sind Eltern schwer mit Argumenten zu erreichen. Dann kann man als Kinderarzt nur emotional auftreten und sagen: “Wir kennen uns jetzt so und so viele Jahre – sie können Vertrauen zu mir haben. Und wenn nicht, bin ich der Falsche für Sie.” Das tut mir natürlich furchtbar leid. Oft geht es um Familien, wo zu Hause geraucht wird, wo eine Prophylaxe besonders sinnvoll wäre. Und es fällt gerade in diesen Fällen sehr schwer, wegen falscher Informationen aus dem Internet auf den Schutz der Kinder verzichten zu müssen.
Ich habe Verständnis für die tiefe Verunsicherung, die aus der Corona-Zeit zurück geblieben ist. Aber dass das übertragen wird auf Impfungen, die es seit Jahren gibt und die sehr hilfreich sind, ist irrational – und für die Kinder mitunter gefährlich.
Meine Meinung ist: Entweder ich impfe mein Kind oder es bekommt die Grippe. 80 bis 90 Prozent der nicht geimpften Kinder bekommen die Grippe. Gerade hatte ich eine Mutter hier, die sagte: “Danke, dass Sie meine ganze Familie gegen Grippe geimpft haben. Wir sind weit und breit die einzigen, die es nicht erwischt hat. Bei allen anderen um uns herum liegt die ganze Familie flach.” Auch in den Kitas sieht es so aus. 6 Kinder von 30 stecken sich nicht an – und das sind die, die gegen Grippe geimpft sind.
Ergebnis: Wir haben aufgrund der Influenzawelle derzeit 30 bis 40 Prozent mehr Patienten am Tag. Komplikationen sind zum Glück selten – etwa 5 Prozent, also ein oder zwei pro Tag. Aber das reicht ja. Dadurch entsteht viel zusätzlicher Redebedarf, mehr Kontrollen und große Beunruhigung der Eltern. Eigentlich müssen Kinder, die ansonsten stabil sind, die nicht brechen, gar nicht in die Praxis kommen. Doch die Eltern wollen sicher gehen. Natürlich gibt es Schnellabstriche für zu Hause. Aber die haben nur eine Sensitivität von 80 Prozent, und wer bohrt schon tief genug in der Nase seines Kindes? Dennoch bräuchten eigentlich 80 Prozent der akut Kranken nicht in die Praxis kommen. Ein Süppchen, Ruhe, frischer Pampelmusensaft, das genügt oft völlig.