Neue Daten der randomisierten, kontrollierten Studie 'DIADEM-I' zeigen beachtliche Remissionsraten früher Typ-2-Diabetiker nach kompletter Umstellung der Ernährung.
Woran liegt es, dass im Bereich der potenziell reversiblen Ursachen für Diabetes Typ 2 noch immer viel Potenzial verschenkt wird? Die Autoren der in der aktuellen Ausgabe des Lancet Diabetes & Endocrinology veröffentlichten Studie 'DIADEM-I' meinen, es könnte mit der Auffassung zu tun haben, dass Diabetes nicht reversibel ist und eine Eskalation der medikamentösen Therapie der vorgegebene Weg ist, um der fortschreitenden Insulinresistenz und Betazell-Dysfunktion zu begegnen.1
Diese Sichtweise wird durch Beobachtungen aus Studien zur bariatrischen Chirurgie und zu diätetischen Beschränkungen aufgeweicht, welche zeigen konnten, dass Restriktionen der Nahrungsaufnahme und signifikanter Gewichtsverlust zu verbesserter glykämischer Kontrolle, einer Reduktion von Diabetes-Medikamenten sowie Diabetes-Remissionen führen können.
Die 'DIADEM‑I'-Studie ist die erste randomisierte, kontrollierte klinische Studie zur Effektivität einer intensiven Lebensstil-Intervention, in Form einer zunächst vollständigen Auswechslung der Ernährung (Mahlzeiten-Ersatzprodukte mit niedrigem Energiegehalt), gefolgt von einer allmählichen Kost-Wiedereinführung, bei jungen Patienten mit frühem Diabetes Typ 2. Die 18–50-Jährigen Patienten litten seit 3 Jahren oder kürzer an einem Diabetes und erhielten entweder die Intervention (n = 70) oder die Standardversorgung (n = 77).1
Nach 12 Monaten verzeichneten die Teilnehmer der Interventionskohorte signifikante Gewichtsreduktionen: im Schnitt 12 kg (versus 4 kg in der Kontrollkohorte). Dies resultierte bei 61% der Patienten der Interventionskohorte in Diabetes-Remissionen und bei 33% in Normoglykämie. Unter Standardtherapie waren es dagegen nur 12% respektive 4%.
Die Implementierung solcher Maßnahmen so früh wie möglich im Erkrankungsverlauf könnte die Krankheitslast durch Diabetes und die damit verbundenen Komplikationen reduzieren und einem großen Teil der Patienten helfen, Verbesserungen in zentralen kardiometabolischen Outcomes zu erreichen und somit auf lange Sicht hinsichtlich Gesundheit und Wohlbefinden zu profitieren, schließen die Studienautoren.1
'DIADEM‑I' baute auf dem Erfolg der 'DiRECT'-Studie aus Großbritannien auf, untersuchte aber Patienten aus Nordafrika und dem Mittleren Osten, sodass die Ergebnisse möglicherweise nicht 1:1 auf andere ethnische Gruppen generalisierbar sind.
Die wichtigsten modifizierbaren Risikofaktoren, Fehlernährung und Bewegungsmangel, umzukrempeln, erscheint aber bei vielen Betroffenen ein Kampf gegen Windmühlen.
Ein britischer Allgemeinmediziner, Dr. Colin Bannon, überlegte daher, welche Intervention so überschaubar wäre, dass er sie in einer vollgepackten Sprechstunde unterbringen könnte, nachdem er 250 fortlaufende Patienten (ca. ein Viertel aller von ihm betreuten Patienten) gewogen hatte und feststellte, dass drei Viertel von ihnen übergewichtig waren.2,3
Er gab den Patienten lediglich drei kompakte Empfehlungen mit: 1.) Verzicht auf Zucker in Tee oder Kaffee, 2.) Verzicht auf extrem zuckerhaltige Softdrinks wie Cola und 3.) Beschränkung von Süßigkeiten und Fertiggebäck auf Ausnahmen oder idealerweise kompletter Verzicht.
Der Hintergrund: auch wenn wir eigentlich nicht darauf ausgelegt sind, überhaupt zugesetzte Zucker zu uns zu nehmen, konsumieren Amerikaner durchschnittlich 126g Zucker pro Tag, Deutsche 103g (über alle Lebensmittel zusammen gerechnet).4 Letzteres entspräche 380 TL/ Woche. Einer von Dr. Bannons Patienten kam auf 600 TL/ Woche.
Der Effekt seiner simplen Intervention: alle Patienten verloren an Gewicht (im Schnitt um 7%) und die Blutdruck- und Laborwerte etlicher Patienten normalisierten sich derart, dass er zum Teil Medikamente ausschleichen und Diagnosen wie Hypertonus oder Diabetes streichen konnte.
Leider werden selbst solche einfach erscheinenden Ansatzpunkte von Seiten der Lebensmittelindustrie und der Politik wenig unterstützt bzw. sogar erschwert.5 Ein Beispiel war 2017 die Abschaffung der Quotenregelung, die einst den Zusatz von Maissirup zu Lebensmitteln auf 5% beschränkte. Bereits davor nahm ein durchschnittlicher 13‑Jähriger laut Daten der National Diet and Nutrition Survey innerhalb von zwei Jahren sein eigenes Körpergewicht an Zucker zu sich, in sozial schlecht gestellten Familien mehr. Ein durchschnittliches Dreijähriges brauchte dafür nur 12 Monate.6 Auch wird die Zuckerindustrie stark subventioniert, was die Zuckerpreise künstlich niedrig hält. Dies ist einer der Gründe, warum Junkfood billig ist und "echtes" Essen oft teuer.5 "Dies ist nicht mit guter Gesundheit kompatibel und stellt ein epidemiologisches Desaster dar", meint Dr. Bannon.5 "Wie viele Menschen sind gestorben, bevor Tabak zu einem Aussätzigen wurde? Jetzt muss Zucker an der Reihe sein."7
Die Deutsche Diabetes-Hilfe und die Deutsche Adipositas-Gesellschaft warnten im Vorfeld der Gesetzesänderung 2017 vor einer "Zuckerschwemme" und einem Anstieg von Übergewicht und Diabetes.8 Dass dies bspw. auch für Tumorerkrankungen wichtige Implikationen haben könnte, berichteten wir hier (https://www.esanum.de/blogs/onkologie-blog/feeds/today/posts/suess-ist-nicht-gleich-suess).
Einige Stimmen erinnern – gerade im aktuellen Kontext – daran, dass die Verbesserung der metabolischen Gesundheit der Bevölkerung weiter oben auf die Agenda muss.
Das Editorial der Juni-Ausgabe des Lancet Diabetes & Endocrinology weist darauf hin, dass Diabetes bzw. generell eine schlechte Blutzucker-Einstellung zu den wichtigsten Komorbiditäten gehört, die für die Verlaufsschwere bei COVID‑19 eine Rolle spielen und schließt mit folgenden Worten:
"Was COVID‑19 betrifft, haben wir nicht nur eine übertragbare Erkrankung bekämpft, sondern auch eine wachsende Hintergrundrate nicht übertragbarer Krankheiten (NCDs, wie Diabetes und Übergewicht), welche die Zahl der Todesopfer unnötig erhöht haben.
Im Nachgang dieser Pandemie ist es aufgrund der Wahrscheinlichkeit einer globalen Rezession, Massenarbeitslosigkeit und einem finanziellen Defizit, welches die Welt jahrzehntelang beeinträchtigen könnte, vielleicht naiv, zu denken, dass zusätzliche Ressourcen verfügbar sein werden, um die metabolische Gesundheit zu verbessern und die Krankheitslast aufgrund nicht übertragbarer Erkrankungen zu senken. Doch genau dies muss passieren."9
Referenzen:
1. Taheri, S. et al. Effect of intensive lifestyle intervention on bodyweight and glycaemia in early type 2 diabetes (DIADEM-I): an open-label, parallel-group, randomised controlled trial. The Lancet Diabetes & Endocrinology 8, 477–489 (2020).
2. Was können wir tun, um die MS-Inzidenz zu senken? https://www.esanum.de/blogs/neurologie-blog/feeds/today/posts/was-koennen-wir-tun-um-die-ms-inzidenz-zu-senken. 3. Lifestyle and MS - Research Talk - Dr Colin Bannon.
4. 45 Alarming Statistics on American’s Sugar Consumption and the Effects of Sugar on Americans’ Health - TheDiabetesCouncil.com. https://www.thediabetescouncil.com/45-alarming-statistics-on-americans-sugar-consumption-and-the-effects-of-sugar-on-americans-health/.
5. Prof. G. Giovannoni. The war on sugar. Multiple Sclerosis Research Blog https://multiple-sclerosis-research.org/2020/01/the-war-on-sugar/ (2020).
6. Daily added sugar intake by age groups. https://ichef.bbci.co.uk/news/624/cpsprodpb/40ED/production/_88812661_2010623_daily_added_sugar_v4.gif.
7. Bannon, C. Like tobacco, sugar must be made a pariah | Letters. The Guardian https://www.theguardian.com/society/2016/feb/18/like-tobacco-sugar-must-be-made-a-pariah (2016). 8. Isoglukose: Warum der Zuckersirup zum Problem werden könnte. https://www.aerztezeitung.de/news/news_ticker/article/945677/isoglukose-zuckersirup-problem-koennte.html.
9. Endocrinology, T. L. D. &. COVID-19: underlying metabolic health in the spotlight. The Lancet Diabetes & Endocrinology 8, 457 (2020).